piwik no script img

Anatolische FolkmusikCharme des Anadolu-Rock

Derya Yildirim und Graham Mushnik veröffentlichen in „Hey Dostum, Çak!“ anatolische Folksongs, die Kinder fröhlich stimmen. Und Erwachsene ebenso.

Derya Yıldırım und Graham Mushnik haben ihr Album mit türkischen Kinderliedern eingespielt Foto: Tchane

Es gehört zum Wesen so genannter Kindermusik, sich gleichzeitig an zwei sehr unterschiedliche Hörergruppen zu richten: Die Jüngeren selbst nämlich und ihre nicht immer freiwillig mithörenden Eltern. Dass für letztere Beschallung mit repetitiv-quietschigen Kinderhits zur echten Geduldsprobe werden kann, veranlasst viele Musiker und Musikerinnen, sich an Werken zu versuchen, die die verschiedenen Vorlieben berücksichtigen.

Das Ergebnis ist im besten Fall eine Symbiose aus kinderfreundlicher Eingängigkeit und genug Detailreichtum, um auch beim wiederholten Anhören noch allen Spaß zu machen. In der überraschend langen Reihe solcher ambitionierten Veröffentlichungen finden sich etwa Indie-Größen wie das Londoner Poptrio St. Etienne, US-Antifolksängerin Kimya Dawson und Yeah Yeah Yeahs-Sängerin Karen O.

Im deutschsprachigen Raum versucht etwa die „Unter meinem Bett“-Reihe, pop-affine Eltern und ihren Nachwuchs gleichermaßen anzusprechen. Größeren Zuwachs erhielt auch diese musikalische Nische durch den pandemiebedingten Homerecording-Boom und die Hinwendung zu persönlichen Projekten als Ersatz für Konzerte.

Für die Multiinstrumentalistin Derya Yıldırım wurde der Sommer 2021 zur Recherchezeit für ein Album mit türkischen Liedern aus ihrer eigenen Kindheit. Aufgewachsen im Hamburger Stadtteil Veddel, wurde sie von ihrem Vater mit Volksliedern an die anatolische Laute Bağlama geführt und lernte traditionelle Stücke im Türkischunterricht oder beim Instrumentalstudium.

Türkische Volks-, Wiegen- und Kinderlieder

Im ostanatolischen Dorf der Großeltern verarbeitete Yıldırım diese Erinnerungen während eines Sommers zu konkreten, von der ländlichen Atmosphäre geprägten Skizzen. In Zusammenarbeit mit dem französischen Musiker und Produzenten Graham Mushnik wurde daraus das nun beim Hamburger Label Buback erscheinende Album „Hey Dostum, Çak!“ („Gib mir fünf!“): Es ist eine Sammlung von Volks-, Wiegen- und Kinderliedern mit Anleihen von Folk und dem Anadolu Rock der 1960er und 70er Jahre, an dessen jüngerem Revival Derya Yıldırım nicht unbeteiligt ist.

Das Album

Derya Yıldırım & Graham Mushnik: „Hey Dostum, Çak! – Music for children and other people“ (Buback/Indigo)

Seit 2014 verbindet ihre Grup Şimşek traditionelle türkische Texte und Lieder mit psychedelischem Retro-Funk und warmen Synthiebädern zu einem so emotionalen wie tanzbaren, stets schwer groovenden Amalgam. Yıldırıms charakteristisches Bağlama-Spiel kommt auch auf „Hey Dostum, Çak!“ immer wieder zum Einsatz, wird hier aber eingebettet in eine wuselige Klanglandschaft aus Glöckchen, Drummachines, Flöten, schrägen Keyboards und Trommeln.

Für die Arrangements arbeitete die in Berlin lebende Musikerin mit ihrem Grup Şimşek-Kollegen Graham Mushnik zusammen, der sich spätestens mit seinen Soloalben und Theatermusikkompositionen als Experte für verspult-eklektischen Pop ohne Furcht vor Genregrenzen empfohlen hat.

„Music for children and other people“

Und, weil zuletzt eine gute Kindermusik auch einen Kinderchor braucht, versammelte Derya Yıldırım ihre fünf Cousinen und Cousins im nordrhein-westfälischen Kinderzimmer zum Einsingen der Backing-Vocals. Um es vorwegzunehmen: „Hey Dostum, Çak!“ gelingt der im Untertitel als „Music for children and other people“ bezeichnete Spagat aus kindgerechter Direktheit und einer Aufrichtigkeit, die ihr Publikum jeden Alters ernst nimmt.

So bündig die zwölf Lieder auch sind – keines erreicht drei Minuten Länge-, eröffnen sie dank der Vielfalt der Quellen und abwechslungsreichen Arrangements einen universellen musikalischen Raum, der auch Menschen erreicht, denen die Poesie der türkischen Sprache weitestgehend verborgen bleibt.

Für weitere Nachforschungen wurden für das Booklet alle Texte übersetzt und von der mexikanischen Künstlerin Glenda Torrado illustriert, die außerdem auf dem Cover allerlei Tiere in bester Stadtmusikantentradition übereinanderstapelt. Kinder außerhalb der türkischsprachigen Community werden ohnehin dank des Einsatzes von Samples und lautmalerischen Melodien abgeholt.

In „Tren Gelir“ schnauft der namensgebende Zug zu einem unermüdlichen Beat sowie Dampflok-Tuten imitierender Flöte um die Ecke, und das Zwitschern in „Mini Mini Bir Kuş“ macht auch den Kleinsten sofort klar, dass es hier um einen Vogel geht. Durch die simple Melodie und die das Nachsingen anregende Songstruktur lassen sich diese Stücke eindeutig einer kulturübergreifenden Kinderliedtradition zuordnen.

Die Familie spielt mit

Auch der Eröffnungstrack „Ilgaz“ mit Derya Yıldırıms jüngerem Bruder Yakubhan an der Klarinette passt in diese Kategorie. An anderer Stelle wird es folkiger, so im sanften Ey Çoban („Oh Hirte“) des türkischen Singer-Songwriters Ethem Adnan Ergil. Zwischen Gitarre, Glöckchen und Flöte bleibt viel Platz für Yıldırıms Stimme, die hier im Vergleich zu ihrem expressiven Gesang bei Grup Şimşek sehr nah mikrofoniert klingt und persönlich anmutet.

Durch die Reduktion von psychedelischen Klangschichtungen und Anadolu-Rock-Jams liegt der Charme dieses Kinderalbums zwischen Tradition und Aufbruch. So wurde der anatolische Folk-Klassiker „Maçka Yolları“ durch die Retro-Band Altin Gün auch einem Publikum bekannt, das sich zuvor nicht mit den Einflüssen türkischer Rockmusik der 1960er und 70er Jahre beschäftigt hatte.

Der funkig-lässigen Interpretation Altin Güns stellen Yıldırım und Mushnik ein perkussiv-treibendes, leicht chaotisches Arrangement mit Orgel und Darbuka entgegen, das einen ganz anderen, unverstellteren Blick auf die Quelle eröffnet.

Einmal mehr zeigt sich hier das grundsätzliche Interesse der Musikerin an der Rekontextualisierung traditioneller Texte und Folksongs, die ihre Ursprünge immer durchscheinen lässt und zugleich generationsübergreifende Verbindungen in die Gegenwart knüpft. Das Schöne an vielen Kinderliedern ist passenderweise ihre Zeitlosigkeit, und vielleicht war auch deshalb Yıldırım prädestiniert für die Aufnahme dieses Albums, das sie sich, wie sie sagt, als Kind selbst gewünscht hätte.

Man muss das berührendste Lied des Albums – „Atem Tutem Men Seni“ (Ich spiele mit dir, mein Kind), ein aus dem Aserbaidschanischen ins Türkische übersetztes Wiegenlied – nicht schon gekannt haben, um es sich so oder ähnlich als Schlaflied vorzustellen, vielleicht in einer anderen Sprache und in einer anderen Zeit, aber mit derselben Wirkung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Es freut mich sehr wieder diese schönen anatolischen Lieder wie in den Siebziger- und Achtzigerjahren mit elektronischen Instrumenten gespielt, zu Gehör zu bekommen. So waren es die letzten die ich gerne hörte die „Akbaba ikilisi“ und „Derdiyoklar ikilisi“, wurde diese Art Musik jedoch mit der „Arabesque-Welle“ abgelöst und diese dann letztendlich mit der „Türk-Pop-Welle“ dann ganz zu verschwinden. So gab es aber auch die „Özgün-Musik“ Zeit, die die ganze Zeit parallel dazu bestehen blieb und mit ihren politischen Texten mehrere Generationen prägte.

    Erst Ende der Neunzigerjahre kamen dann wieder Rockbands zu Tage, die dann eher klassisch „Hard-Rock“ die alten Lieder coverten.

    Was mich aber persönlich explizit abholte, war die Gruppe „Kardes Türküler“, die mit ihrem schamanistischem Stil mich von der Antike bis in die Gegenwart durch beide Seidenstraßen führten.



    Konnte sie damals in Berlin live hören und das Yaşar Kemal auch mit mir unter den Zuhörern saß, versüßte mir damals jenen wunderschönen Klangzauber umso mehr.

    Freu mich jetzt umso mehr dass diese Lieder wieder gespielt und neu interpretiert werden, so hat jedes dieser Lieder für sehr viele jede Menge Erinnerungen. Gerade die erste Generation der türkischen Gastarbeiter, die von Tag zu Tag immer weniger werden, oder auch deren Kinder, beide Generationen haben fast zu allen Liedern eine Geschichte zu erzählen.