Die Wahrheit: Stiletto im Ghetto

Seit 20 Jahren gibt es in Dublin ein städtisches Wahrzeichen, das den Dublinern aber seit 20 Jahren gar nicht gefällt: eine gigantische Stahlnadel.

Man kann ihn von unserem Schlafzimmerfenster sehen. Vermutlich kann man ihn von jedem Schlafzimmerfenster Dublins sehen, denn es gibt keine nennenswerten Hochhäuser in der Stadt, so dass die 120 Meter hohe Stahlnadel alles überragt. Der „Spire“, wie das Ding heißt, ist gerade 20 Jahre alt geworden. Er steht auf Dublins Hauptstraße, der O’Connell Street.

Eigentlich sollte er die Jahrtausendwende einläuten, aber daraus wurde nichts, weil eine Studie zur Umweltverträglichkeit fehlte. Die wurde erst Ende 2000 nachgereicht, was aber niemanden wunderte, da Iren notorisch unpünktlich sind.

Dennoch sprach der Architekt Ian Ritchie, dessen Entwurf der am wenigsten grauenhafte von 205 Mitbewerbern war, von einem „Symbol für Dublin für das 21. Jahrhundert wie zum Beispiel der Eiffelturm für Paris und die Freiheitsstatue für New York“. Abgesehen davon, dass Eiffelturm und Freiheitsstatue nicht wirklich Symbole für das 21. Jahrhundert sind, ist der Spire nicht mal begehbar. Am Sockel hat er einen Durchmesser von drei Metern, an der Spitze sind es nur 15 Zentimeter.

Offiziell heißt die 4,6 Millionen Euro teure Nadel „Monument of Light“, aber das einzige Licht ist eine rote Laterne an der Spitze, damit Flugzeuge nicht aufgespießt werden. Die Dubliner haben sich auch nach 20 Jahren nicht mit dem Spire angefreundet. Sie haben ihm den Spitznamen „Stiletto im Ghetto“ verpasst, denn der Stöckelschuh sollte eigentlich Auftakt zur Aufhübschung der tristen O’Connell Street sein, aber in dieser Hinsicht hat sich nichts getan. Böswillige behaupten, die Nadel sei ein Denkmal für Drogentote, galt Dublin doch lange als Heroinhauptstadt Europas.

Im Fundament ist eine Kapsel eingemauert. Sie enthält die Titelseite der Irish Times, eine Quittung aus der Bar des Shel­bourne-­Hotels sowie eine Schachtel Zigaretten. Heutzutage würde man sich das vermutlich genau überlegen: Damals kostete eine Schachtel Kippen 4,10 Euro. Inzwischen muss man dafür fast das Vierfache hinblättern. Und Trinker erinnern sich wehmütig an die Alkoholpreise im Shelbourne-Hotel, wo übrigens Adolf Hitlers Halbbruder Alois vor gut hundert Jahren kellnerte.

Die Stahlnadel ist dreimal so hoch wie die Nelson-Säule, die von 1809 bis 1966 an dieser Stelle stand. Sie enthielt im Sockel aber keine Zigaretten, sondern eine Bombe: Am 8. März 1966, zum 50. Jahrestag des Osteraufstands gegen die englischen Besatzer, sprengten drei Männer das Denkmal des englischen Kriegshelden. Irlands damaliger Präsident Éamon de Valera, einer der Anführer des Osteraufstands von 1916, bemerkte danach trocken: „Admiral Nelson verließ Dublin auf dem Luftweg.“ Die Dubliner freuten sich über den hastigen Aufbruch, konnten sie damals doch nicht ahnen, dass sie 37 Jahre später stattdessen einen Stöckelschuh bekommen würden.

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Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net

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kari

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