: Der 24-Stunden-Athlet
Der Norweger Halvor Egner Granerud ist nach zwei Siegen auf dem besten Weg, die Vierschanzentournee zu gewinnen. Neben seinem außergewöhnlichen Talent verfügt er nun auch über Nervenstärke
Aus Garmisch-Partenkirchen Lars Becker
Als Sven Hannawald vor 21 Jahren den letzten deutschen Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee feierte, war der kleine Bub Halvor Egner Granerud im fernen Norwegen einer seiner größten Fans. „Ich bin daheim im Garten gesprungen und meine Ski hatten die gleiche Farbe wie die von Sven Hannawald“, hat der 26-Jährige in diesen Tagen erzählt.
Jetzt ist Granerud nach seinen Siegen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen auf dem besten Weg, selbst das wichtigste Skisprung-Event zu gewinnen. Sven Hannawald traut dem Norweger sogar zu, dass er auch die Konkurrenzen in Innsbruck und Bischofshofen für sich entscheidet. Damit würde er als vierter Skispringer nach Hannawald, Kamil Stoch und Ryoyu Kobayashi alle vier Springen bei einer Tournee auf dem Siegerpodest beenden.
Ein begnadeter Flieger war der Gesamtweltcup-Sieger 2020/21 schon immer, doch oft scheiterte er an seinen Nerven. Ob bei der Vierschanzentournee oder der Nordischen Ski-WM 2021 in Oberstdorf, wo er als Topfavorit keine Einzelmedaille gewann. „Halvor ist ein 24-Stunden-Athlet, tut alles für den Sport. Manchmal etwas zu detailverliebt und zu verkopft“, sagt der norwegische Cheftrainer Alexander Stöckl. „Aber er kommt das immer besser in den Griff. Bei den wichtigsten Springen des Jahres so eine Leistung zu zeigen, ist gigantisch und extrem nervenstark.“
Granerud sagt, dass er „einen Weg gefunden hat, mit dem Druck umzugehen“. Dabei half ihm ein Psychologe. Direkt nach seinem Siegsprung beim Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen setzte er sich in Yoga-Meditationspose in den Schnee – genau wie Fußball-Weltstar Erling Haaland, sein berühmter norwegischer Landsmann, es nach Toren oft getan hat. „Ich habe so viel Freude, Stolz und Erleichterung gefühlt. Schließlich ist einer meiner größten Träume als Skispringer in Erfüllung gegangen“, sagt Granerud.
Ein noch größerer Traum wäre der erste norwegische Tournee-Gesamtsieg seit Anders Jacobsen vor 16 Jahren: „Das würde die Welt für mich bedeuten.“ Bei 26,8 Punkte Vorsprung in der Tournee-Gesamtwertung auf den Polen Dawid Kubacki – das sind fast 15 Meter – ist das mehr als wahrscheinlich. Und das, obwohl Coach Stöckl auf dem Trainerturm immer zittert, ob Granerud seinen rechten Ski rechtzeitig in die richtige Flugposition bringt. „Trotz seines Skifehlers macht Granerud vor allem im Flug die entscheidenden Meter. Wenn sein System greift, dann fliegt er einfach geradeaus.“
Granerud ist ein außergewöhnlicher Flieger, das zeichnete sich schon in seiner Kindheit ab. Seinen Eltern hat er beispielsweise den klaren Auftrag mitgegeben, dass sie ihn vom Playstation-Spielen abhalten sollen: „Schließlich will ich einmal der Beste der Welt werden.“
Ernst ging es aber nicht immer zu. In seiner Jugendzeit sprang Granerud nach einem Grillfest mit Freunden nackt von einer 60-Meter-Schanze in Oslo. Seitdem hat Granerud in Norwegen den Spitznamen „Nakenhopperen“ – der nackte Skispringer – weg. Noch heute findet er, dass das „mein witzigster Tag im Leben als Skispringer war“.
Später jobbte Granerud in einem Kindergarten in Trondheim. Dort musste er sich 2020 Geld dazuverdienen, nachdem im Winter davor ein 23. Platz sein bestes Weltcup-Resultat gewesen war. Granerud machte sich zu dieser Zeit Gedanken, was er aus seinem Skispringer-Leben machen will.
Das war der Beginn seines spektakulären Aufstiegs. Im Winter 2020/2021 gewann er den Gesamtweltcup und den Team-Titel bei der Skiflug-WM. In jenem Winter musste er eine lange Quarantäne nach einer Corona-Erkrankung in Oberstdorf überstehen. An Tag 14 der Quarantäne postete Granerud ein Bild von sich beim Kaffeetrinken mit einem Schneemann. Dessen Name: Wilson. Wie im Film „Cast Away – Verschollen“, in dem Tom Hanks nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel strandet und ein Ball namens Wilson sein einziger Gesprächspartner ist. Jetzt will jeder mit ihm reden – natürlich auch sein einstiges Idol Sven Hannawald.
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