Klima, Krieg, Demographie: Schnarchrepublik Deutschland

Das Wort „Zeitenwende“ wird abgenickt, aber Politik und gerade auch viele junge Leute ignorieren, dass das einen harten Neuanfang bedeutet – wie nach einem großen Krieg.

„Zeitenwende“ ist das Wort des Jahres 2022 Foto: dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 20.12.2022 | Es braucht nur einen unerwarteten Ausbruch aus der Sicherheit eingefahrener Weltbewältigungswege und das ganze Tableau unbewältigter Probleme bündelt seine sich gegenseitig potenzierenden Wirkungen in ein dramatisches Momentum, das nicht mehr ignorierbare und historische Antworten verlangt. „Zeitenwende“ ist für diese Lage, in der wir sind, ein durchaus passender Begriff. Allerdings hat Kanzler Olaf Scholz seine Zeitenwende nicht in dieser Totalität definiert, sondern sie in seiner Rede vom 27. Februar auf die Wiederherstellung der militärischen Selbstverteidigungskraft der Bundesrepublik begrenzt.

Dabei sind die Modernisierungszwänge des gesamten gesellschaftlichen Lebens offensichtlich. Putins Überfall der Ukraine hat die Klimakrise in ihrer ganzen Tiefe offengelegt. Der Umstieg in die nachfossile Industriewelt kann nicht mehr als grün-ideologischer Wunschtraum abmoderiert werden. Er ist bei Strafe einer Deindustrialisierung zwingend. Mit der Inflation und den Preissteigerungen auf allen Märkten, die kaum sehr schnell wieder verschwinden werden, ist Mangel in das Alltagsleben zurückgekehrt.

Jetzt wird klar: Ökologischen Fortschritt ohne substantielle Veränderungen im gewohnten Leben, ohne eine Neudefinition von Lebenschancen und Lebensqualitäten, wird es nicht geben. Da helfen auch die guten alten sozialdemokratischen Strategien eines Nachteilsausgleichs durch Umverteilungsgerechtigkeit nicht mehr weiter. Sie sind in den nächsten Dekaden der Transformation schlicht unbezahlbar.

Zu Krieg und Klimakrise kommen die demographischen Tatsachen. Bis irgendwann zwischen 2040 und 2050 verwandelt sich der Weihnachtsbaum der Bevölkerungspyramide in eine klobige Keule, deren gesellschaftliche Ressourcen verzehrende Kraft erst einmal immer weiter zunimmt. Die Sozialsysteme und alle gesellschaftlichen Versorgungsstrukturen sind auf diesen Wandel nicht eingestellt. Sie funktionieren nach dem Prinzip der unmittelbaren gegenseitigen Verantwortung der Generationen füreinander. In den nächsten Dekaden müssen aber immer weniger Junge für immer mehr Ältere und Alte sorgen. Mit der Ansage der vorherigen Bundesregierung aus Union und SPD, die Sozialabgaben insgesamt bei 48 Prozent der Bruttoeinkommen aller Arbeitnehmer dauerhaft deckeln zu wollen, sind die Mehrkosten, die dennoch auf diesem Weg entstehen, allein aus dem Generationenvertrag heraus nicht zu decken.

Es ist, zum Beispiel, bisher keiner Bundesregierung gelungen, die steigenden Kosten im Gesundheitssystem zu deckeln, bei gleichbleibenden Versorgungsstrukturen in hoher Qualität und dem Vermeiden jeder Rationierung von Gesundheitsdienstleistungen. Im Gegenteil. Die Bundesregierungen haben durch das Festhalten an der dualen Finanzierung im Krankenhauswesen – laufende Kosten werden von den Trägern getragen und Investitionen in die Krankenhauslandschaft von den Ländern – sowie der Einführung der Fallpauschalen jede Chance auf eine Effizienz-Revolution selbst verbaut.

Die Bundesregierung behauptet, dass Renten und Pflege dauerhaft gesichert seien, unabhängig von der Altersverteilung im direkten Umlageverfahren. Das bedeutet, dass nur das ausgezahlt werden kann, was auch eingenommen wird. Wie die fehlenden Sozial-Beiträge der Arbeitenden ersetzt werden sollen, die jetzt und in den nächsten Jahren in Rente gehen, ist offen. Der Zuschuss des Bundes zu den Renten wächst jährlich an. Unbegrenzt geht das nicht. Um die Einnahmen der Rentenversicherung aus den Beiträgen der Versicherten zu stabilisieren, braucht es nach Berechnungen der Finanzwissenschaftler demnächst die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis auf 72 Jahre.

Mangel, Anstrengung und Mehrarbeit für alle

Die Bundesregierung ignoriert auch die aufziehende Bildungskrise in den Schulen. Schon in wenigen Jahren werden bis zu 200.000 Lehrer an allen Schultypen fehlen. Wie Mathias Greffrath in der taz schreibt, werden „Unterqualifikation, Wachstumsschwund, Steuerausfall – und Millionen Kinder, die nicht hinreichend für ein halbwegs erträgliches und selbstbestimmtes Leben ausgestattet sind“ die Folge sein.

Weltweiter Frieden, Klimaschutz, ökologischer Industrieumbau und an die Demographie angepasste, neu aufgestellte Sozialstrukturen sind die eine Jahrhundertaufgabe, die nur integriert zu lösen ist. Von einem solchen Weltverstehen sind Bundesregierung und bundesdeutsche Gesellschaft weit entfernt. Mit Ausnahme der Grünen in der Wirtschaftspolitik hält die Ampel-Bundesregierung an dem überkommenen Reparatur-Paradigma fest. Hier ein Schräubchen, dort ein Schräubchen drehen, aber möglichst alle strukturellen Veränderungen vermeiden.

In der Gesellschaft und auch bei den Jüngeren sind weiter die Lebensschnäppchenjäger unterwegs, die vor allem ihre „Work-Life-Balance“ im Blick haben. Sie ziehen Teilzeitarbeit und gutes Geld leidenschaftlichem Einsatz bis zur Erschöpfung und Selbstbeschränkungen vor. Aber ohne letzteres wird es keinen Weg in die ökologische Zukunft aller geben.

Bei der routinierten Kritik an „Politik“ wird gern übersehen, dass es diese erstaunliche Übereinstimmung gibt bei Bundesregierung und den Generationen von morgen im Blick weg von den Notwendigkeiten und Pflichten bei der Arbeit an der Jahrhundertkrise. Das Wort „Zeitenwende“ wird zwar abgenickt, aber es wird ignoriert, dass das einen harten Neuanfang bedeutet, wie nach einem großen Krieg. Dazu gehören Mangel, Anstrengung und Mehrarbeit für alle ohne ein verbindliches Glücksversprechen.

Wenn die Zeitenwende als integriertes, ökologisches Transformations- und Modernisierungsprojekt auf den Weg gebracht werden soll, als historische Antwort auf die Kriegstreiber, Demokratiefeinde, Klimakrisen-Leugner und das demographische Drama, dann werden sich alle – egal, wo und wie sie leben – auf neue Strukturen und Zumutungen einlassen müssen, auch wenn es schmerzt und knirscht und quietscht. Dennoch: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, da hat Hermann Hesse einfach Recht. Vor uns allen liegen aufregende Jahre. Ich freue mich darauf.

Wünsche frohe Weihnachten.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

.
.