: Ein städtischer Salon im Krisenwinter
Die Amerika-Gedenkbibliothek ist ein öffentlicher Ort ohne Konsumzwang. Und das auch am Wochenende
Von Matthieu Praun
Ein Sonntagnachmittag im Dezember. Bei minus 5° Außentemperatur wirkt der beheizte Salon der Amerika-Gedenkbibliothek durchaus einladend. Dort findet gerade der „Wirtschaftssalon“ statt, etwa zehn Besucher:innen beteiligen sich an einer moderierten Diskussion über Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ebenso viele hören nur mit halbem Ohr zu oder lesen Zeitung. Dabei ist diese Veranstaltung der Grund, dass sie heute überhaupt hier sein können.
Laut Arbeitszeitgesetz dürfen nur wissenschaftliche Bibliotheken sonntags öffnen, die Berliner Landesbibliotheken gehören nicht dazu. Um trotzdem sonntags Besucher:innen empfangen zu können, hat man sich in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin einen Trick überlegt. Das Begleitprogramm, das seit 2017 jeden Sonntag in der Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg stattfindet, macht aus ihr offiziell einen Veranstaltungsort. Solange Vorträge, Lesungen, Diskussionsrunden, Kinderbasteln oder -malen geplant sind, darf die Bibliothek ihre Türen öffnen. Das Programm wird von einem externen Anbieter durchgeführt, die Bibliothekar:innen dürfen ja nicht arbeiten. Die meisten Medien können aber an Automaten auch weiterhin ausgeliehen werden.
Anfang November sind die Öffnungszeiten am Wochenende noch einmal verlängert worden: samstags bis 21 und sonntags bis 18 Uhr. Die Amerika-Gedenkbibliothek folgt damit einem Aufruf der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Unter dem Titel „Netzwerk der Wärme“ sollen Orte der Begegnung und des nachbarschaftlichen Austauschs“ geschaffen werden, um den Berliner:innen durch den Krisenwinter zu helfen. Die Amerika-Gedenkbibliothek ist, so wie 60 weitere öffentliche Bibliotheken in Berlin, ein solcher Ort.
Sonntagspublikum
Das Angebot wird angenommen, kurz vor der Schließung ist die Bibliothek diesen Sonntag noch gut besucht. Dass Bibliotheken auch am Wochenende öffnen, sei wichtig, erklärt Anna Jacobi, Pressesprecherin der Berliner Zentral- und Landesbibliothek. „Sonntags kommt ein anderes Publikum, viele Eltern mit ihren Kindern. Und auch viele Schüler:innen, die zu Hause nicht lernen können, schon gar nicht in Gruppen. In welchem Wohnzimmer kann man sich denn schon zu fünft hinsetzen zum Lernen?“.
Wohnzimmer sind sonntags umkämpfte Räume, die Bibliothek bietet da eine willkommene Ausweichmöglichkeit. Auch für die beiden Zehntklässlerinnen, die morgen eine Prüfung in Biologie schreiben. Ein Freund gibt ihnen Last-minute-Nachhilfe, zwei weitere machen Hausaufgaben. Sie kommen hierher, weil die Lernatmosphäre besser ist, sagen sie. Zu Hause sei weniger Platz, hier können sie in Ruhe lernen, sich dabei aber auch unterhalten. Das ist nicht immer so, mischt sich ein Besucher am Nebentisch ein. Sonntags würde hier in Sachen Lautstärke eher mal ein Auge zugedrückt werden. Es scheint ihn aber nicht besonders zu stören.
Auch in der Kinder- und Jugendbibliothek im Untergeschoss sitzen Gruppen von Jugendlichen, die Hausaufgaben machen. Die Übergänge zwischen Arbeit und Spaß, Lernen und Abhängen, sind dabei fließend. Das gilt auch für andere: In einer Sitzecke ist die Lernsession zweier Studierender zum Date mutiert. Auf Englisch unterhalten sie sich über vergangene Beziehungen und Red Flags beim Daten.
Die Amerika-Gedenkbibliothek unterscheidet sich stark von den vielen großen und kleinen wissenschaftlichen Bibliotheken, die es in Berlin gibt. Universitätsbibliotheken haben eine klare Funktion, von der das relativ homogene Publikum wenig abweicht. Hier jedoch eignen sich die Besucher:innen die Räume an. Im Lesesaal wird nicht nur gelesen, sondern auch gezockt, gestreamt und programmiert. Im hinteren Teil des Saals findet eine Kryptoparty statt, ein paar Regalreihen weiter basteln Bibliotheksgäste ganz analog.
Dass nicht alles wie vorgesehen genutzt wird, beobachtet auch Anna Jacobi. Der Salon etwa, der an das Kaffee angrenzt, war als Ort des Austauschs gedacht. Darauf weist auch ein Schild über dem Eingang hin: „Sprechen erlaubt“. Tatsächlich ist es in diesem Raum mit den Sesseln aber am ruhigsten – wenn nicht gerade eine Veranstaltung stattfindet. Menschen lesen Zeitung, hören Musik oder fläzen sich in den Sesseln. „Das ist auch in Ordnung“, sagt Jacobi. „Hier muss niemand lesen, man darf auch einfach Löcher in die Luft starren. Wo geht das denn noch?“ Die Bibliothek als öffentlicher Raum, der sich dem Konsumzwang entzieht.
Deshalb dürfen Besucher:innen sehr viel Gepäck mit reinnehmen, im Zweifel auch ihr gesamtes Hab und Gut. Doch auch hier gibt es Regeln: Schlafen darf man so zum Beispiel nicht. Eine junge Frau, die es sich auf der beheizten Fensterbank gemütich gemacht hat, wird von einem Sicherheitsmitarbeiter freundlich, aber bestimmt angesprochen: „Hallo, schlafen nur zu Hause.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen