Deutschland ist mein Land

TIBOR STURM

Ich hab alles, was man Leben nennt, komplett verloren. Ich leb versteckt. Ich hab einen geheimen Wohnsitz. Eine geheime Nummer. Ich bin noch auf der Flucht. Ich könnte einfach aus Deutschland ausreisen und mich irgendwo anders niederlassen. Aber das will ich nicht. Ich bin in Deutschland geboren, aufgewachsen, ich hab in Deutschland studiert, ich hab in Deutschland gearbeitet, ich bin deutscher Künstler. Ich hab vor, in Deutschland auch zu sterben. Und ich lass mich nicht aus meinem Mutterland vertreiben.

Ich wurde am 20. Dezember 2005 von sechs Neonazis in Nürnberg am Reichsparteitagsgelände angegriffen. Dann musst ich mich verteidigen, hab einen Angreifer mit ’ner Holzlatte erwischt und wurde dann wegen Notwehrexzess zu sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt. Bin vorbestraft, weil ich nichts anderes als mein afrodeutsches Leben verteidigt hab. Ich war dann unheimlich wütend. Auf alles. Auf alle weißen Menschen. Auf die Rechten. Aufs Gericht. Den Richter. Den Staatsanwalt. Zeitweise gab es sechs Morddrohungen gegen mich von unterschiedlichen Kameradschaften aus ganz Nordbayern. Polizeischutz wäre möglich gewesen. Ich hätte in ’ne sichere Wohnung ziehen können. Mit Personenschutz. Aber das wär wie ’n Gefängnis gewesen. Ich wollte das nicht. Ich war da erst draußen. Ich wollt einfach leben.

Während ich in Haft war, sind meine Kinder nach Amerika. Auch aufgrund schulischer Schwierigkeiten. Sie waren ja die einzigen schwarzen Kinder auf ’ner weißen Schule. Da sind sie natürlich angegangen worden. Das haben sie psychisch nicht verkraftet.

Ich geh jetzt in Schulen, klär Jugendliche auf über die neuen Rattenfängermethoden der Rechten, über die neue Musik. Es kümmert sich sonst keiner wirklich drum. Einzelne Politiker sagen, dass sie ’nen Pakt gegen Rechtsextremismus gründen, aber nicht genau sagen können, wann und wie. Es ist eine Utopie, dass Deutschland einmal ganz frei von Rechtsextremismus sein könnte. Aber ich möchte meinem Sohn nicht sagen müssen, du kannst nicht nach X-Dorf fahren, weil das dort eine No-go-Area für dich ist. Da darfst du, obwohl du deutsch bist, nicht hin, weil du sonst Gefahr läufst, dein Leben zu verlieren. Ich wünsche mir, dass wir in fünf Jahren sagen können: „Herzlich willkommen“, und das dann auch so meinen.

Hinweis:Tibor Sturm, 33, Musiker, geheim gehaltener Aufenthaltsort

Das Protokoll von Tibor Sturm gibt es als Video unter taz.de/unerhoert