Tania Martini MartiniShot: Einseitige Opfermythen
Den Film „Farha“ über die „Nakba“ habe sie gemacht, weil sie der Geschichte, die sie gehört habe, treu sei, sagte die jordanische Filmregisseurin Darin J. Sallam in einem Interview. Es geht um ein Mädchen, dessen Geschichte so erzählt wird, wie die meisten sie sowieso glauben: Die Palästinenser lebten als autochthones Volk in Frieden in ihrem Land, bis die Juden einfielen und sie vertrieben. Dass die Wahrheit komplizierter ist als dieser griffige Opfermythos, wird gern verdrängt. Wen scheren Fakten, wenn es reicht, einer Geschichte treu zu bleiben, um mit Preisen bedacht zu werden wie Sallam, die die Israelis entsprechend monsterhaft und als Kindermörder zeichnet. Dass der Film nun auch auf Netflix gut ankommt, überrascht nicht.
Im Begriff „Nakba“ ist die israelische Staatsgründung als Katastrophe gezeichnet, und es gibt jede Menge Leute, die glauben, man könne den millionenfachen, industriemäßigen Mord an den europäischen Juden mit der „Nakba“ aufrechnen, den Vertreibungen von arabischen Menschen und dem Unrecht, das ihnen während der Gründung Israels angetan wurde. Nach dem Motto, schaut her, die Überlebenden sind selbst zu Tätern geworden. Ungeachtet der unterschiedlichen Dimension der Verbrechen unterschlägt die Nakba-Erzählung, so auch Sallam, die Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern (600.000), die Pogrome, denen sie dort ausgesetzt waren, die Idee des eliminatorischen Antisemitismus („Töte die Juden! Tötet sie alle!“, Amin al-Husseini) und dass fünf arabische Staaten Israel nur einen Tag nach seiner Gründung überfielen, mit der Absicht, es zu zerstören.
Die individuelle Geschichte in „Farha“ mag sich gar so zugetragen haben, wo es Krieg und Vertreibung gibt, herrscht Unrecht. Gleichzeitig aber ist sie eingebettet in eine Geschichte von Falschmeldungen und Propaganda, die Léon Poliakov, der Pionier der Holocaustforschung, in seiner sehr lesenswerten Schrift „Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation“ (ça ira, 2022) nachzeichnet.
Poliakov analysiert die Entwicklung der antijüdischen Propaganda im 20. Jahrhundert und zeigt eindrücklich: „Mit dem Sechstagekrieg änderte sich bekanntlich alles, sowohl auf der rechten Seite des ideologischen Spektrums – mit General de Gaulles ‚kleiner Anmerkung‘ über das selbstbewusste und herrschsüchtige Volk –, als auch auf der linken Seite – mit der Erhebung der Fedajin zu zentralen Figuren einer expandierenden Dritte-Welt-Ideologie.“ Vor allem seit dem Sechstagekrieg scheint es, als würden alle Widersprüche, die die Welt spalten einen Ausdruck und ein Symbol im jüdisch-arabischen Konflikt finden, zitiert Poliakov Abdallah Laroui.
Tania Martini ist Redakteurin für das Politische Buch und schreibt an dieser Stelle regelmäßig ein Editor’s Choice.
Poliakovs Essay ist ebenso instruktiv wie erschütternd, zeigt er doch die Herkunft der ideologischen Muster, die auch heute die antisemitischen Stereotype prägen, die uns ständig begegnen. Sein Essay gibt eine Idee davon, wie wenig man ausrichten kann gegen einseitige Opfermythen und Sündenbockkonstruktionen. Was freilich nur als Aufruf verstanden werden kann, einen genauen Blick auf Geschichten wie die von Sallam zu werfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen