sozialkunde : Im Bett mit deinem Feind: politische Kompromissdramen
Man kann Neoliberalismus und Marktstaatlichkeit gar nicht gegeneinander ausspielen. Im Ernst glaubt das auch niemand.
Politik ist die Kunst, das Drama kompromissfähig zu machen. Die andere Meinung soll nicht besiegt werden, sondern es soll ihr ein Platz zugewiesen werden. Der gegenwärtige Streit um die Positionen des Neoliberalismus und des Wohlfahrtsstaates ist dafür ein gutes Beispiel. Niemand glaubt ernsthaft, dass es möglich wäre, das eine gegen das andere auszuspielen. Und dennoch ist allen bewusst, dass die beiden Positionen sich dramatisch unterscheiden. Also geht es darum, sie so zu dosieren, dass beide zu ihrem Recht kommen und jedermann weiß, wie die Gewichte bis auf weiteres verteilt sind.
Die Soziologin Yvonne Hartman, die im australischen Lismore lehrt, hat in ihrem Aufsatz „In Bed with the Enemy“ in Heft 1/2005 der Zeitschrift Current Sociology gezeigt, dass man sich von der neoliberalen Kampagne gegen den Wohlfahrtsstaat nicht täuschen lassen sollte. Der Neoliberalismus ist auch in Ländern wie Australien, Neuseeland, England und den USA auf Elemente des Wohlfahrtsstaates angewiesen, um jenen zweiten Arbeitsmarkt zu subventionieren, auf dem zum einen für die Industrie billige und flexible Arbeitskraft vorgehalten wird, zum anderen jedoch Arbeitskräfte die Bezahlung ihrer Mieten, Krankenkassenbeiträge und Kreditzinsen auch dann leisten können müssen, wenn sie gerade einmal nicht in Beschäftigung sind. Der Wohlfahrtsstaat sichert mit seinen Transferleistungen die Überbrückung von Einkommensausfällen. Die entscheidende Frage von Bismarck über Thatcher und Blair bis Hartz lautet daher nicht „Wohlfahrtsstaat ja oder nein“, sondern unter welchen Bedingungen und in welcher Höhe diese Transferzahlungen so geleistet werden, dass die Arbeitskräfte nach wie vor genügend Motive haben, sich dem zweiten Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen und sich nicht etwa ganz auf die Transferzahlungen zu verlassen.
Fatalerweise funktioniert diese Balance zwischen Neoliberalismus und Wohlfahrtsstaat nur dann, wenn es einen zweiten Arbeitsmarkt gibt. Sein weitgehender Ausschluss in Ländern wie Frankreich und Deutschland bedeutet die Überforderung des Wohlfahrtsstaates durch die Finanzierung der Arbeitslosigkeit, ein Abdrängen des zweiten Arbeitsmarktes in die Schwarzarbeit und eine Rigidisierung des ersten Arbeitsmarktes durch Verzicht auf durchlässige Grenzen zum zweiten Arbeitsmarkt.
In diesem Dilemma bewegt sich die Politik. Sie dramatisiert den Gegensatz zwischen einer Marktöffnung, die sowohl Wachstumschancen als auch Globalisierungsrisiken mit sich bringt, auf der einen Seite, und einer Abschottung vom Markt, die kurzfristig Beschäftigung sichert, aber langfristig Refinanzierungsprobleme schafft, auf der anderen Seite, um beides aufeinander zu beziehen und wechselseitig zu balancieren, und nicht etwa, um das eine für richtig zu halten und das andere für falsch. Natürlich hat das seinen Preis. Die Zuspitzung dieser beiden Positionen auf ihre Kompromissfähigkeit hin wird nicht nur ideologisch vernebelt, indem die eine Position die andere unmöglich zu machen versucht. Und sie ist nicht nur mit hohen persönlichen Kosten verbunden. Sondern das Ganze geschieht auch auf Kosten Dritter, die im Drama keine Rolle spielen können, weil man nicht wüsste, welchen Beitrag sie bei der Kompromissfindung spielen könnten.
Mit Blick auf die neoliberale und die wohlfahrtsstaatliche Position gilt dies gegenwärtig vor allem für die internationale Politikbürokratie (von der Welthandelsorganisation über die EU bis zu den Nichtregierungsorganisationen) und für die ökologische Bewegung. Beide sind Zaungäste eines Machtpokers, der so tut, als könne er ohne sie stattfinden, weil das Problem der Arbeitslosigkeit größer ist als jedes andere. Tatsächlich wird sich dies jedoch als ein Zwischenspiel erweisen. Sobald der zweite Arbeitsmarkt konstituiert ist, wird man sich wieder um eine andere Formatierung der Politik bemühen müssen. Bis dahin werden diejenigen, die jetzt Zaungäste sind, herausfinden müssen, welches politische Gewicht in welchem Streit ihre Positionen noch haben können. Dann wird sich dasselbe Drama des Kompromisses auf einem anderen Feld wiederholen. DIRK BAECKER
Der Autor, Soziologe in Witten/Herdecke, schreibt an dieser Stelle regelmäßig über soziologische Themen – immer am dritten Dienstag eines Monats