: Noch viel Raum für Raumpioniere
AUS HERZBERG (ELSTER) UND PLESSA UWE RADA
Kann es noch schlimmer kommen? Schlimmer als 20 Prozent Arbeitslose, Geburtenknick und Abwanderung der Jungen in den Westen? Kann die Lage noch aussichtsloser sein, als sie es ohnehin ist in einer Stadt wie Herzberg (Elster), schmuck zwar, mit herausgeputztem Stadtkern, aber weitab vom Berliner Speckgürtel gelegen, im Bermudadreieck zwischen Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt?
Es kann. Anfang Juni verkündete der Armaturenhersteller Grohe, sein Werk in der 11.000 Einwohner zählenden Kleinstadt Ende des Jahres zu schließen. 300 Beschäftigte verlieren ihren Job, obwohl sie profitabel gearbeitet haben. Allein der US-Mutterkonzern will die Rendite von 20 auf 29 Prozent schrauben. Im Brandenburgischen Landkreis Elbe-Elster haben sie seitdem ihren eigenen Begriff von Globalisierung.
Das Zauberwort „Vernetzung“
Kann es noch schlimmer kommen? Oder ist die Schließung des Grohe-Werks auch eine Chance? Weil man in schrumpfenden Regionen ohnehin eher auf sich selbst als auf die letzten „Player“ setzen sollte? Weil es früher oder später sowieso so gekommen wäre? Weil man, wenn es später gekommen wäre, Zeit verloren hätte, die anderen Dinge in Angriff zu nehmen? Die Agenda Gesundschrumpfen zum Beispiel.
Frank Berg ist so einer, der der Katastrophe bei Grohe auch etwas Positives abgewinnen kann. Seit fast zwei Jahren kümmert sich der Sozialwissenschaftler aus Berlin als Leiter des EU-Projekts „Arbeit in der Region Elbe-Elster“ vor allem um eines – Vernetzung. Er bringt kleine und mittlere Metall- und Elektrobetriebe zusammen, damit sie ihre Stärken in der Trenn- und Fügetechnik weiterentwickeln. Clusterbildung heißt das in der Staatskanzlei im fernen Potsdam. In Herzberg heißt es zunächst, Misstrauen abbauen, im Gegenüber nicht nur Konkurrenz wittern, kurzfristige Vorteile aufwiegen gegen die möglichen mittelfristigen.
Vernetzung betreibt Berg aber auch in der Landwirtschaft. „Wir wissen, dass sich die meisten in der Region am liebsten von regionalen Produkten ernähren wollen. Das Problem ist nur, wo bekommen sie die. In den Lebensmittelgeschäften leider nicht.“ Also versucht Berg, Hofläden und Bauernmärkte, Direktvermarkter und Kunden zusammenzubringen. Mit einigem Erfolg. Ein „regionaler Warenkorb“ ist bereits zusammengestellt – Ökoapfelsaft, Biofleisch, Schnittblumen – und wird inzwischen auch vom Tourismusverband beworben. Auch das hat Berg nämlich geschafft: Regionale Wirtschaftsförderung und Tourismuswerbung nicht nur an einen Tisch zu bringen, sondern auch eine Stelle zu schustern, die von beiden zur Hälfte finanziert wird. Netzwerke kommen nicht nur und gehen, man kann sie auch festbinden.
Und das ist dringend nötig im Landkreis Elbe-Elster ganz im Südwesten Brandenburgs. Anders als in der Lausitz oder der Uckermark ist regionale Identität hier nichts, was zum Greifen nahe wäre. Im Osten des Landkreises, wo inzwischen die Tagebaulöcher geflutet werden, fühlen sie sich als Niederlausitzer. Am Flussband der Schwarzen Elster dagegen, zwischen Herzberg, Bad Liebenwerda, Elsterwerda und Plessa, geht die Mundart ins Sächsische. Hier schaut man nicht nach Berlin oder Potsdam, sondern auf die Städte an der Elbe, Riesa und natürlich Dresden. Elbe-Elster-Land ist also ein Kunstprodukt, mit allen Nach- und Vorteilen. Sich vor der ungewissen Zukunft in die wärmenden Geschichten regionaler Mythen zu flüchten, funktioniert hier nicht. Also bleibt gar nichts übrig, als den Blick nach vorn zu richten. Auch wenn man in Herzberg das Wort vom Gesundschrumpfen nicht gerne hört: Mit Grohe wird das Elsterland nicht untergehen.
Das ist es, worauf Frank Berg, der Netzwerker, aufbauen will. Er sagt: „Regionale Identitäten entstehen dort, wo die Leute zusammenkommen, um etwas Gemeinsames auf die Beine zu stellen.“ In Bad Liebenwerda ist es schon gelungen mit dem „shrink to fit“: In die Stadt mit der Mineralquelle, den Kurhotels und der Therme Wonnemar kommen die Erholung Suchenden aus Dresden und Berlin. Auch das also ein „Cluster“ an der Peripherie, den man inzwischen auch in der Landesregierung wahrgenommen hat. „Mit Profilen wie diesen“, sagt die Raumplanerin Renate Fritz-Haendeler vom Ministerium für Infrastruktur und Raumordnung, „können sich auch die Städte in den berlinfernen Regionen weiterentwickeln.“
„Stärken stärken“ heißt die Devise deshalb auch in den anderen Kommunen im Elbe-Elster-Land. Auch wenn man weiß, dass man sich fürs Lob aus Potsdam nichts kaufen kann. Schließlich hat Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) erklärt, sich künftig auf den Berliner Speckgürtel konzentrieren zu wollen.
Keine guten Aussichten also, das weiß auch Frank Berg. „Die Region steht am Scheideweg“, sagt er. „Verödung und Verblödung sind nicht ausgeschlossen. Aber die Chancen, aus dem Elbe-Elster-Land einen lebenswerten Raum zu machen, der sich trotz weiterer Abwanderung behaupten kann, sind ebenfalls gut.“ Und dann sagt Berg etwas, was man selten hört in Brandenburg. „Diese Entwicklung hängt nicht von Fördermitteln ab, sondern von den Akteuren. Wenn die Leute gut sind, bekommen sie auch die Mittel, ihre Ideen umzusetzen.“
Der neue Begriff: „Raumpionier“
Ideen, Experimente, Labore für neue Landschaften und neues Wirtschaften: Je öfter die Politik ganze Landstriche aufgibt, desto intensiver suchen andere nach Visionen für die schrumpfenden Regionen in Ostdeutschland. Selbst ein neuer Begriff wurde gefunden – der „Raumpionier“. „Das sind“, sagt nicht ohne Pathos der Schrumpfungsexperte Ulf Matthiesen vom Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner bei Berlin, „kreative Menschen, die in Scheunen und Bauernhäusern bestimmte Dinge ersinnen, entwerfen und produzieren.“ Im Zeitalter von E-Mail und Handy kein Problem, findet Matthiesen.
Die Ausdünnung der Landschaft, das Verschwinden der Industrie, der Leerstand in den hübsch sanierten Altstädten, die Schließung von Schulen und Sparkassenfilialen – alles nur eine Frage der Perspektive?
Ganz so einfach ist es nicht. Hajo Schubert, einer der ersten „Raumpioniere“ im Elbe-Elster-Kreis, weiß es. Zusammen mit der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land hat der 53-Jährige das Kraftwerk Plessa vor dem Abriss gerettet, hat mit der Geschichte des ersten Kraftwerks im Lausitzer Revier aus dem Jahre 1927 argumentiert und mit der Zukunft, die in die alten Mauern einziehen könnte. Die 3.300 Einwohner der Stadt wollten es nicht hören. Plessa, das war für sie bis zum Ende der DDR Arbeit und bescheidener Wohlstand, das Abschalten des Kraftwerks 1992 dagegen das unzweifelhafte Zeichen dafür, dass sie nicht mehr gebraucht würden.
Doch Schubert, der ehemalige Gewerkschaftsaktivist aus Westberlin, hat nicht lockergelassen, hat Konzepte geschrieben, getüftelt und gerechnet, Überzeugungsarbeit in den Wirtshäusern geleistet. Heute wissen die Leute in Plessa: Er meinte es ernst. Im Kraftwerk entsteht etwas Neues, kein Biodiesel zwar, wie sich Schubert ursprünglich vorgenommen hat, wohl aber böhmisches Schwarzbier, eine brandenburgisch-böhmische Koproduktion, die schmeckt.
Und natürlich Kultur. Da stört es auch nicht, dass das Kraftwerk Plessa inzwischen Erlebniskraftwerk heißt. Ohne die anderen Raumpioniere, die Investoren mit den gefüllten Scheckbüchern, kommt auch ein Hajo Schubert nicht aus.
Vielleicht ist es aber gerade das, was die Leute aus Plessa für Schubert einnimmt – der lange Atem eines Überzeugungstäters, der sich auch von Rückschlägen nicht entmutigen lässt; einer, der sich, wie die Einheimischen vor Ort, im Schrumpfland, dem Land der neuen Möglichkeiten, eine neue Existenz aufbauen muss.
Vision und Pragmatismus
Eine Mischung aus „Vision und Pragmatismus“ nennt das Frank Berg, der Netzwerker aus Herzberg. „Natürlich braucht es Anstöße von außen, aber ohne die Rückbindung ins bodenständige Milieu funktioniert am Ende gar nichts.“
Berg, der bodenständige Soziologe, will sich nicht einmal vom Scheitern der Biodieselträume in Plessa entmutigen lassen. „Das große Potenzial im Elsterland ist das Holz“, sagt er. „Noch können die Landwirte von Roggen und Milch leben, doch schon in fünf Jahren wird es eng.“ Berg setzt deshalb ganz auf nachwachsende Rohstoffe, auf Energieholz zum Beispiel, aus dem Bioenergie geschaffen werden kann.
Zukunftsträume? „Natürlich habe ich die“, schmunzelt Berg, der pragmatische Pionier. „Aber das Schönste ist, wenn die Leute später sagen: Das war meine eigene Idee. Das lag auf der Hand.“