Eruptionen bei Dunkelheit
Polarsturm im Dampfbehälter: „Reflux“, ein Festival für elektroakustische Musik, machte am Dienstag im Museum Kesselhaus Herzberge Station
Von Robert Mießner
Am Dienstagabend des 25. Oktober wurde Lichtenberg zum Südpol. Antarktische Stürme griffen nach dem Backstein des Kesselhauses Herzberge und ließen die verschlungenen Rohre und wuchtigen Dampfbehälter vibrieren: den Doppelflammrohrkessel, der ab 1893 als einer von zehn Wärmeerzeugern die „Irrenanstalt Herzberge“ versorgte, wie auch die vier Borsig Schrägrohrsektionalkessel, die ab 1951 ihren Dienst versahen. Sie waren aus der zerstörten Neuen Reichskanzlei auf das Krankenhausgelände gebracht worden.
Manchmal kennt die Geschichte Gerechtigkeit. Auch die beiden Geräte des Volkseigenen Betriebs (VEB) Vorwärmer- und Kesselbau Köthen, sie waren von 1961 bis in die frühen achtziger Jahre im Einsatz, stießen zu dem industriellen Perkussionsorchester. Zumindest schien es so.
Den Sturm und den Sound hatte Philip Samartzis in das Herzberger Kesselhaus, das jetzt ein Museum beherbergt, gebracht. Samartzis’ Multikanal-Komposition „The Blizzard“ besteht aus Field Recordings von Stürmen, die der Klangkünstler und Wissenschaftler in der Ost-Antarktis aufgenommen hat. Viele der Mitschnitte sind während des extremsten Blizzards entstanden, dem die australische Forschungsstation Casey jemals ausgesetzt war. Es kam zu Windgeschwindigkeiten von 100 Knoten.
Die Perkussionsmomente in Samartzis’ Aufführung waren die Klänge, die der Blizzard den malträtierten Messgeräten und der Außenhaut der Station entlockte. Das zu hören, während man zwischen den im Kesselhaus an neuralgischen Punkten montierten Lautsprechern hin- und herlaufen konnte und sollte, war durchaus beunruhigend. Die Rauchgasreiniger beziehungsweise -beschleuniger des Kesselhauses heißen übrigens Zyklone.
„The Blizzard“ ist Teil des seit September und noch bis Dezember laufenden Festivals für elektroakustische Musik „Reflux“, das die Klangkünstler Ignaz Schick und Werner Dafeldecker an Klangorten wie St. Elisabeth, dem KulturRaum Zwingli-Kirche oder dem Theater im Delphi ausrichten. Im Kleinen Wasserspeicher Prenzlauer Berg ist Mitte September der italienische Komponist Valerio Tricoli aufgetreten. Er war es, der den zweiten Teil des Abends übernahm. Das bereits spärlich beleuchtete Kesselhaus wurde noch einmal verdunkelt, von Schick kam die Empfehlung, sich besser einen Sitzplatz inmitten der Industrieartefakte im Obergeschoss zu suchen.
Guter gewählter Ort: Lichtenberg hat einigen Anteil an der Musikgeschichte
Tricoli führte Bernard Parmegiani auf, einen Pionier der elektroakustischen Musik. Der Toningenieur des französischen Fernsehens war nach einer Begegnung mit Pierre Schaeffer zu dessen Institut Groupe de recherches musicales (GRM) gestoßen und sollte Komponisten wie Yannis Xenakis und Luc Ferrari assistieren. Durch Parmegiani haben viele Leute elektroakustische Musik gehört, ohne es zu wissen: Er hat das Jingle für den Pariser Flughafen Charles de Gaulle komponiert. Tricolis Parmegiani klang noch geräuschhafter als Samartzis’ Sturm-Studien, die Performance geriet regelrecht eruptiv. Die Diskokugel, die von einem der Stahlträger baumelte, blieb arbeitslos wie die ausladenden Werkstattlampen der Paul Mrosek KG Wittenberg.
Kein Zweifel, der Ort war gut gewählt. Lichtenberg hat einigen Anteil an der Musikgeschichte. Anfang der zwanziger Jahre wurde hier das Ultrafon entwickelt, ein Abspielgerät für Schallplatten mit zwei Schalldosen, Tonarmen und rechtwinklig versetzten Schallöffnungen. Gerade einmal zwei Straßenbahnstationen vor dem Evangelischen Krankenhaus Herzberge haben im Dezember 1989 die Einstürzenden Neubauten ihr erstes DDR-Konzert gegeben. Bereits 1987 waren fett und teurer denn je, zwei Bands um den Dichter Leonhard Lorek, direkt in Herzberge, Ostberlins größter Nervenklinik, aufgetreten. Organisiert hatte das Kantinenkonzert der Chefkoch des Krankenhauses, aus Westberlin angereist waren Marianne Rosenberg plus Gerd Pasemann und Marianne Enzensberger mit der Band Unlimited Systems.
35 Jahre später setzte der Niederländer Thomas Ankersmit den Punkt hinter den Abend. Er war für die aus Krankheitsgründen verhinderte Argentinierin Beatriz Ferreyra kurzfristig eingesprungen. Ankersmit spielte ein intensives quadrofonisches Set auf dem analogen Synthesizer und mit Samples weiterer Geräte, zum Ende hin meldete sich eine kleine Melodie unter den Geräuschschichten. Am Südpol lag derweil braunes Laub auf den Parkwegen. Im Haupthaus brannte noch Licht, die Nacht war sternenklar. Über den Straßenbahngleisen funkelte das Heizkraftwerk Marzahn signalrot. Der Waggon ging wie ein Metronom.
Nächste Konzerte: 27. 10. KM 28, 29. 10. Spreehalle, je 20 Uhr