: Dreimal Sein oder Nichtsein
In Hildesheim kommt Shakespeares Klassiker „Hamlet“ als Schauspiel, als Tanz und als Oper auf die Bühne. Zu sehen sind alle Aufführungen am Wochenende beim „Trilogie-Event“
Von Jens Fischer
Wieder populär werden, das ist eine Gratwanderung in dieser Spielzeit. Ein mit Blick auf Corona, Kriegsangst, Energiekrise, Inflation & Co im Ticketerwerb weiterhin stark zurückhaltendes Publikum soll vom Theaterbesuch als emotional, ästhetisch und geistig wärmender Erfahrung neu überzeugt werden. Und gleichzeitig soll auf künstlerische Ansprüche nicht verzichtet werden.
Auf ganz großes Drama setzen viele Häuser und stürzen sich besonders häufig auf ein Werk des Menschenverstehers, Theatermagiers und Weltenmalers Shakespeare: In Hamburg fokussiert das Schauspielhaus „Macbeth“ und „Caesar“, in Lüneburg kam „Der Sturm“ als Oper wieder auf die Bühne; das Schauspiel Hannover setzt auf „Hamlet“, Lübeck nimmt „Hamlet“ wieder auf und plant „Romeo & Julia“; in Osnabrück tanzt das ikonografische Liebespaar, „Hamlet 21“ heißt es an der Staatsoper Hamburg. Und auch Bremerhaven arbeitet sich mit der „Macbeth“-Oper und „Viel Lärm um nichts“ im Schauspiel gleich zweimal an Shakespeare ab.
Aber all das wird nun von Hildesheim getoppt, wo „Hamlet“ gleich in allen drei Sparten auf dem Abendspielplan steht. Das hat das Theater für Niedersachsen in den vergangenen Spielzeiten bereits mit „Die Räuber“ und „Medea“ probiert – mit gemischtem Erfolg.
Wieder spielen alle drei Inszenierungen in einem Einheitsbühnenbild von Anna Siegrot – fürs philosophische Räsonieren des Dänenprinzen ließ sie ein Halbrund aus Kassettentüren bauen. Davor windet sich der nackige Hamlet in der Choreografie von Yamila Khodr und wird von elektrischen Sounds durchzuckt. Quälerisch sucht er nach Haltungen, forscht anschließend nach seinem Bewegungsvokabular.
Psychotheater statt Handlungsballett bietet der Abend. Ein zweiter Hamlet kommt hinzu. So können die inneren Kämpfe der Figur in äußeren Bewegungen sichtbar gemacht werden, ist Hamlet doch eine Legende des Schwankens zwischen gegensätzlichen Kräften in sich selbst, Sein oder Nicht-Sein. Hinzu kommen der Zwiespalt eines vaterhörigen Muttersöhnchens und die Frage, ob er nur anklagen oder endlich aufbegehren sollte gegen die zynische Realpolitik der Elterngeneration.
Auf der Bühne wankt Hamlet erst mal unentschlossen hin und her zwischen der verführerisch tanzenden Mutter Gertrud, die ihn inzestuös anzieht sowie moralisch abstößt, und Claudius, dessen Macho-Herrschergehabe er entweder in heldenwilliger Wut mit Kampfkunstposen begegnet oder sich mit Schöntanzposen in melancholischer Tathemmung abwendet.
Claudius und Gertrud bringen mit ihren Pas de deux das gegenseitige Begehren zum Ausdruck. Rührend vergeblich hingegen die Annäherungen der selbstbestimmt einfühlsamen Ophelia an ihren Märchenprinzen.
Reduziert auf die zentralen Figuren-Konstellationen endet die Choreografie nicht im Chaos der Vorlage, sondern zeigt die Reifung Hamlets als Amalgamierung gegensätzlicher Persönlichkeitsaspekte. Alle Kolleg:innen sind wie üblich tot zum Finale, unüblich bleibt ein Hamlet aufrecht stehen und sonnt sich selbstbewusst in einem Lichtkegel.
Im Schauspiel versucht Ayla Yeginer das Tragische mit dem Komischen in Balance zu bringen. Das brüchige Fundament unserer aus den Fugen geratenen Welt ist Anknüpfungspunkt für die Aktualität des Stücks, die mit der zeitgeistig designten Übersetzung von Marius von Mayenburg und dem Setting unterstützt wird: Das auf acht Rollen reduzierte Personal ist in eine TV-Talkshow geladen. Das Spannungs- und Konfliktgeflecht muss so nicht in einer stundenlangen Abfolge von Mono- und Dialogen aufgedröselt werden, alle Figuren könnten es gleichzeitig verhandeln – als mediale Familienaufstellung. Tolles Konzept.
Aber meist wird bei Drehpausen in Kleinkonstellationen wie bei Shakespeare agiert, die Handlung läuft sozusagen hinter den Kulissen weiter. Moderiert wird der „Nachmittagstalk für Royalisten“ vom geckenhaften Hohlschwätzer Rosencrantz und der mit journalistischem Restehrgeiz agierenden Güldensternin. Sie wollen offene Wunden öffentlich machen.
Applaus für diese Anbiederung an ein Promi-Trash-williges Publikum kommt nicht von den Zuschauer:innen, sondern als Zuspielung der Tontechnik. Inhaltlich dreht sich alles um Verlust und Rache. Shakespeare-gemäß werden Machtspiele offengelegt und psychische Deformationen ausgelebt, aber existenzielle Fragen nach Individualität und gesellschaftlichen Zwängen bleiben unausgeleuchtet. Hamlet ist vor allem ein ungehemmter Choleriker. Der Abend zerfällt in lustig Gemeintes und ernst Gedachtes, ohne die Poesie, die Substanz oder die Rätselhaftigkeit des Werks zu vermitteln.
Leider stellt sich die Hamlet-Oper als Kuckucksei der Trilogie heraus. Denn nicht Shakespeares Text liegt dem Libretto zugrunde, sondern eine seiner Quellen. Francesco Gasparini veroperte 1706 die nordische Amleth-Sage, davon ist aber nur ein Liederbuch überliefert. Aus dem Material hat der Hamburger Komponist Fredrick Schwenk aus heutiger Sicht barockes Musiktheater nachempfunden – mit historischem, aber auch elektronischem Instrumentarium.
Die Auseinandersetzung mit einem ambivalenten/bipolaren Helden aber entwickelt sich nicht. Er leidet auch nicht zum Tode, sondern feiert mit der Geliebten Happy End. Was Regisseurin Amy Stebbins zumindest konterkariert, indem sie die Titelfigur als einen zielstrebigen Machtspieler unter vielen zeigt.
Hamlet-Trilogie-Event mit Oper, Schauspiel und Tanz: So, 30. 10., ab 9.45 Uhr, Hildesheim, Theater für Niedersachsen
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