Sprachkunst ist Notwehr

Es kommt darauf an, den Rand für den Mittelpunkt der Welt zu halten: Ror Wolfs kurzweilige Tagebücher

Ror Wolf: „Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebuch 1966–1996“. Hg. von Klaus Schöffling. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2022. 344 Seiten, 32 Euro

Von Frank Schäfer

Die versprochene Autobiografie fand sich nicht im Nachlass von Ror Wolf, aber immerhin existieren Tagebücher von 1966 bis 1996, jenen Jahren, in denen der Autor vom jungen Prosa-Avantgardisten mit Suhrkamp-Weihen zum gefeierten Radio-Collagisten, Fußballpoeten und eben auch literarischen „Geheimtipp“ avanciert.

Eine Position, in der er sich schon früh einrichtet und dank der gutdotierten Aufträge für den Rundfunk auch halbwegs komfortabel leben kann. „Ich ziehe es vor, keine Rolle zu spielen“, notiert er schon im August 1980. „Es wird darauf ankommen, den Randpunkt, den ich besetzt habe, von Zeit zu Zeit für den Mittelpunkt der Welt zu halten.“

Das gelingt ihm außerordentlich kurzweilig und komisch in seinen Tagebüchern, die stenogrammartig den profanen Kleinkram mitschreiben, ihn aber auch immer wieder überformen. Wolf lässt seinen Alltag aphoristisch leuchten, verzerrt ihn ins Groteske oder führt die Gattungsgepflogenheiten ironisch ad absurdum. „Eine Kartoffel fällt mir auf die Hose“, notiert er sich im Juni 1983.

Kunst ist Notwehr angesichts der Katastrophen des Lebens, deshalb ist es für ihn „unmöglich, endgültig, also mit sämtlichen Konsequenzen, mit diesem albernen Literaturspiel aufzuhören“. Obwohl die Verkäufe in der Regel zu wünschen übrig lassen. Die Aura der Poesie beginnt langsam zu verblassen in den Siebzigern, ein formal ambitionierter Autor wie Ror Wolf musste das früher zur Kenntnis nehmen.

Ein Running Gag in diesen Tagebüchern, die, was Sprachwitz und Ideenreichtum angeht, dem Werk dieses großen Autors allemal ebenbürtig sind, ist die Umzugsmanie des Ehepaars Wolf. Kaum haben sie sich eingerichtet, suchen sie schon wieder nach einer neuen Wohnung, weil die Heizung „knackt“, die Wohnung stinkt wie ein „Fäkalienkübel“, es durchs Dach regnet oder die anderen Hausbewohner zur Unzeit schnaufen, lachen oder Löcher bohren. Vornehmlich nachts, wenn er arbeiten will. Sie haben schon Pech, und Wolf ist mindestens hypersensibel, aber ein bisschen scheint er sich auch in seinem ewigen Mietelend zu suhlen.

Bei aller komischen Verzerrung liefert die Lektüre aber auch einen Längsschnitt vom Schriftstellerdasein in der Bundesrepublik dreier Jahrzehnte. Von den Messen, Lesungen, Reisen mit den Kollegen und von den stets schwierigen Beziehungen des Autors zu seinen diversen Verlagen. „Herr Unseld bittet mich zu einem Gespräch“, schreibt er am 17. September 1979. „Es ist immer ein hübsches Gefühl, mit Herrn Unseld zu reden, man fühlt sich so anfängerhaft und erfolglos, so ganz geborgen im Hause Suhrkamp.“

Allein aus seinen verstreuten Suhrkamp-Sottisen könnte man eine hübsche Radio-Collage basteln, die der Realität sogar recht nahekommen dürfte, weil sie nicht nur die Verletzungen und Unverschämtheiten, sondern eben auch seine ästhetische Kompromisslosigkeit und enorme Anspruchshaltung dokumentiert.