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Archiv-Artikel

Tony Blair, Glücksfall für Europa Kommentar von Dominic Johnson

Eigentlich kann die EU heilfroh sein, dass Tony Blair jetzt die Führung übernimmt. Wären die Versager Schröder oder Chirac an der Reihe, es gäbe eine Katastrophe: der Rückzug der EU in ein Kerneuropa, das mit Volldampf in die Sackgasse rast und die Lösung aller Probleme auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt. Am Ende stünde eine noch tiefere Spaltung der EU, wenn nicht gar ihr Zerfall.

Mit Blair wird stattdessen eine Debatte über die Zukunft Europas möglich. Statt über Verfassungstexte will er über das wirkliche Leben sprechen. Der Brite, so wurde gestern in seiner Rede vor dem Europaparlament deutlich, tritt an die EU heran wie vor zehn Jahren an seine Labour-Partei. Ihr machte Blair klar, sie müsse umsetzbare und mehrheitsfähige Programme zur Erneuerung der Gesellschaft auf den Weg bringen, statt sich auf sozialistische Sprüche in ihrem Statut zu verlassen. Das sagt er nun auch der EU. Manche von Blairs Sätzen sind Häresie für Eurokraten, aber sollten jeden Demokraten freuen: etwa, dass die Bürger die Auswirkungen von Politik besser verstünden als die Vollzeitpolitiker; oder dass die Krise der EU eine ihrer Führer sei, nicht eine ihrer Institutionen.

Wohin das führen soll, ist offen. Fraglich ist sogar, ob die EU überhaupt das richtige Instrument zur Erneuerung Europas ist, wo die Bürger doch eine bürgernähere Politik fordern. Aber überhaupt Erneuerung auf die Erfahrungen der Menschen zu beziehen, ist schon ein Fortschritt. In Berlin und Paris hingegen werden Weiterentwicklungen der EU meist als immer neue Metamorphosen institutioneller Reform begriffen.

Blairs Vorwurf – dass die politische Führung Europas den rasanten Veränderungen im Alltag der Bevölkerung hinterherhechelt, statt einen Weg nach vorn zu weisen – betrifft auch Deutschland. Die deutsche politische Kultur befindet sich in einem Stadium der Renationalisierung, für die die rot-grüne Regierung durch ihre geringe Aufgeschlossenheit gegenüber globalen Entwicklungen leider Mitverantwortung trägt. Da verkommt Politik leicht zu einer Ansammlung von Worthülsen – im anstehenden Wahlkampf allemal. Ideen aus Berlin werden da wohl kaum in Blairs Zukunftsdebatte einfließen.