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Archiv-Artikel

Unruhige Zeiten

Durchschlafen ist nicht mehr: An allen Ecken und Enden der internationalen Literatur tauchen derzeit die Themen Schlafmangel und Schlaflosigkeit auf. Ein Überblick von A. L. Kennedy bis Nicholson Baker

VON MAIK SÖHLER

Die Literaturgeschichte ist voll von Dichtern, die dem Schlaf schon früh Platz in ihrem Werk eingeräumt haben. Die Bekanntesten unter ihnen sind wohl Marcel Proust mit seinen vielen verschlafenen Passagen in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und Thomas Mann mit „Süßer Schlaf“. Als diese beiden Großautoren dem Schlaf huldigten, war das 20. Jahrhundert gerade erst ein paar Jahre alt. Nun, da es seit ein paar Jahren vorbei ist, ist vom Schlaf in der Literatur nicht mehr geblieben als sein Mangel. Wenn es stimmt, dass Literatur ein Gradmesser gesellschaftlicher Probleme ist, dann befinden wir uns in unruhigen Zeiten.

„Wir schlafen nicht“, dieser Romantitel von Kathrin Röggla könnte so etwas wie einen Trend bezeichnen. Im Zentrum vieler aktueller Romane stehen Schlaflose und die Folgen ihrer Schlaflosigkeit. So zum Beispiel bei „Schlaf!“, dem Debütroman der jungen Belgierin Annelies Verbeke. An ihm kann man gut studieren, worum es bei alledem geht.

„Meine Nächte waren länger als meine Tage, denn nachts war ich allein. Ich sah zu Remco hin, der neben mir schnarchte. Er war der Grund, warum ich noch einen letzten Rest Gleichgewicht besaß, aber er konnte schlafen, und das machte den Unterschied aus.“ Mit diesen Sätzen beschreibt Verbekes Protagonistin Maya ihre einsame Situation, die noch isolierter wird, als Remco sie kurz danach verlässt. Er erträgt es nicht länger, Mayas der Insomnie geschuldeten unberechenbaren Stimmungen ausgeliefert zu sein.

Seit geraumer Zeit schläft sie, wenn überhaupt, nur noch ein, zwei Stunden pro Nacht, „gegen Morgen gelang es mir dann manchmal, doch noch kurz weg zu sinken, in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachsein, doch war das noch weit entfernt vom Land der Träume“. Ihre Konsequenz daraus ist meistens, sich den Schlaf gleich ganz zu schenken und aufzubleiben, denn „nachts fühlte ich, wie mein Körper mich piesackte, meine Nerven sich anspannten. Mein Bewusstsein erreichte eine Klarheit, die es tagsüber selten hatte“.

Ähnlich ergeht es Benoit, den Maya zufällig und natürlich nachts kennen lernt. Er kann bereits auf Jahre der Schlaflosigkeit zurückblicken und wirkt deutlich entrückt. Irgendwo zwischen glücklichen Erinnerungen an die Kindheit sowie der tristen Gegenwart ohne Schlaf liegt seine Welt. Seine zahlreichen Fluchtversuche aus den Verheerungen des Schlafmangels führen aber zu nichts. Allein Maya kann ihm noch sporadisch folgen, denn auch sie fühlt sich „müde. Todmüde, lebensmüde“, will sich damit aber nicht abfinden.

Entrücktsein. Ausgeliefertsein. Verbekes Geschichte zweier Schlafloser findet sich in vielfältigen Variationen in der internationalen Belletristik wieder. Die Themen Schlafmangel und Schlaflosigkeit tauchen darin derzeit häufig auf – das ist auch kein Wunder, da Schlafstörungen weit verbreitet sind. Seit Jahren steigt die Anzahl derer, die gelegentlich oder regelmäßig Schwierigkeiten mit dem Einschlafen oder Probleme mit dem Durchschlafen haben oder die sogar wegen Schlafstörungen in ärztlicher Behandlung sind.

Die Literatur hat darauf rasch reagiert. In „Cosmopolis“, dem letzten auf Deutsch erschienenen Roman des US-Amerikaners Don DeLillo, wird der Protagonist, der 28-jährige Multimilliardär Eric Packer, so vorgestellt: „Der Schlaf ließ ihn jetzt öfter im Stich, nicht ein oder zwei Mal die Woche, sondern vier Mal, fünf. [...] Er versuchte, sich in den Schlaf zu lesen, wurde aber nur noch ruheloser. [...] Er umging den Schlaf.“ Packer hat alles erreicht, was er erreichen konnte. Nun langweilt er sich, und in seiner Langeweile liebäugelt er mit allerlei Extremen, um aus seinem Alltag auszubrechen, darunter auch mit Schlafes Bruder, dem Tod. DeLillo beschreibt einen Tag im Leben Packers, es ist ein hektischer, umtriebiger, verworrener Tag, an dem sein Protagonist alles auf die Spitze treibt, und es ist ein Tag (samt Nacht) ohne Schlaf, an dessen Ende Packers Wunsch steht, es möge endlich Ruhe einkehren.

Der australische Schriftsteller Tim Winton führt in seinem jüngsten Roman „Der singende Baum“ seine Hauptfigur so ein: „In einer Novembernacht, mal wieder eine, die zum Morgen geworden war, während sie einfach nur dasaß, hob Georgie Jutland den Kopf und sah ihr blasses und wütendes Gesicht im Fenster.“ In einem Fischerdorf an der Westküste Australiens und in einer soliden, aber öden Beziehung gestrandet, finden sich bei ihr dort, wo eigentlich der Schlaf sein sollte, das Internet und der Wodka; sie wird sich mit dieser Situation aber nicht zufrieden geben, sondern ihr entfliehen, um ihr Glück anderswo zu finden.

Auch die Schottin A. L. Kennedy stellt dem Leser und der Leserin die Protagonistin Helen Brindle in ihrem Roman „Gleißendes Glück“ zuallererst über das Ausmaß ihres Wachzustandes vor: „Sie war viel zu müde, um einzuschlafen oder zuzuhören, aber das war nicht schlimm, das war wirklich ganz und gar in Ordnung.“ Ähnlich wie Georgie Jutland ist sie eine Gefangene des Alltags, der von Hausarbeit und einem trägen, nur zum Sex und zum Prügeln aktiv werdenden Ehemann geprägt ist, und genau wie jene sucht auch sie die Flucht aus Zuständen, die sie nicht schlafen lassen. „Tief im Inneren war sie entschlossen, dass die Dunkelheit für sie von nun an nicht mehr Schrecken, sondern Schlaf bereithalten würde.“

Ganz anders verhält sich der Ich-Erzähler Emmett in Nicholson Bakers Roman „Eine Schachtel Streichhölzer“. Der 44-Jährige bekämpft seine Schlafstörungen, indem er sehr früh aufsteht, so den Schlafzyklus verkürzt und den Schlaf insgesamt immer knapp hält: „Guten Morgen, es ist 4.20 Uhr – ich hatte ja immer Schlafschwierigkeiten, aber jetzt viel weniger, weil ich morgens um vier aufstehe. Jedenfalls vor fünf. Ich bin so müde, dass ich gut schlafe.“

Emmett steht für einen pragmatischen Umgang mit Insomnie, zu dem jenseits der Literatur auch Ärzte und Psychologen raten: früh aufstehen, nie völlig ausschlafen, regelmäßige Schlafzeiten finden. Und doch geht Emmett in seinem Pragmatismus recht weit, wenn er sogar seine gelegentlichen Selbstmordfantasien noch nutzbar zu machen versucht – als Einschlafhilfe. Außerdem vertraut er auf seine Fähigkeit, „mich mit Hilfe von schlechten Träumen zu wecken, wenn ich aufstehen muss“, und empfindet das „hohle Schlafmangelgefühl im Kopf“ einfach nur als „kostbar“.

Einen anderen Typus der Schlafgestörten stellt Haruki Murakamis namenlose Ich-Erzählerin aus der Story „Schlaf“ dar. Sie ist 30 Jahre alt, mit einem Zahnarzt verheiratet, hat einen Sohn und beginnt ihren Bericht so: „Es war der siebzehnte Tag ohne Schlaf. Ich spreche nicht von Schlaflosigkeit.“ Darunter litt sie als Studentin, und ihr derzeitiger Zustand unterscheidet sich ihrer Meinung nach deutlich vom damaligen, da sie tagsüber nicht müde ist oder unter anderen, für Insomnie typischen Beschwerden wie Konzentrationsstörungen, Gereiztheit oder Antriebsarmut leidet.

„Ich kann einfach nicht schlafen“, weiß sie und beginnt, ein Doppelleben zu führen. Gegenüber ihrem Mann und ihrem Sohn lässt sie sich nichts anmerken und geht ihren Alltagsverrichtungen nach wie immer: vormittags einkaufen, kochen, sauber machen, nachmittags schwimmen, nur ihre Pausen widmet sie neuerdings der Lektüre, meist russischer Klassiker. Ihre erste schlaflose Nacht war die Folge eines Traumes. Seither liest sie häufig nachts, trinkt dazu Cognac und isst Schokolade. Das alles gefällt ihr sehr gut: „Seit ich nicht mehr schlief, empfand ich die Realität als extrem einfach.“

Doch „mit Beginn der zweiten Woche meines permanenten Wachzustands bekam ich Angst. Es war einfach nicht normal. Menschen müssen schlafen, es gibt keine Menschen ohne Schlaf.“ Gleichzeitig wird ihr Körper vitaler, anstatt zu verfallen; in ihr reift der Entschluss, gar nicht mehr schlafen zu wollen: „Die Zeit zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr früh gehörte mir. [...] Ich habe mein Leben um ein Drittel erweitert. [...] Und das war großartig.“ Immer öfter unternimmt sie nächtliche Spazierfahrten, mal zum Hafen, mal zum Park. Die schlaflosen Nächte und die Ausflüge verändern ihre Wahrnehmung von Mann und Sohn. Dennoch bleiben ihre Tages- und Nachtwelten bis zum Schluss getrennt.

Murakamis Protagonistin geht nicht so weit wie Verbekes Maya, Wintons Georgie Jutland oder Kennedys Helen Brindle, die aufbrechen, sich verändern wollen, vertraute Bereiche verlassen, um anderswo und anderweitig weitermachen zu können. Aber sie geht viel weiter als DeLillos Eric Packer, der lebensüberdrüssig einfach nur mit allem Schluss machen will, und erst recht als Bakers selbstgefälliger Frühaufsteher Emmett, der seinen Schlafrhythmus und sonst nichts ändert. Auffällig ist dabei, dass die Frauenfiguren deutlich aktiver sind als ihre männlichen Pendants.

Bei allen Unterschieden, die bei schlafgestörten Figuren in der zeitgenössischen Literatur zu finden sind, fallen doch auch die Gemeinsamkeiten auf. Fehlender Schlaf wird als etwas derart Außergewöhnliches wahrgenommen, dass die meisten Autoren darauf gleich zu Beginn ihres Romans oder ihrer Story eingehen. Bei DeLillo ist es die erste Seite im Roman, auf der der Hinweis auf die Schlafstörungen des Protagonisten erfolgt, genauso verfahren A. L. Kennedy und Annelies Verbeke mit ihren Protagonistinnen. Tim Winton und Haruki Murakami schaffen es sogar, die Insomnie ihrer Hauptfiguren gleich im ersten Satz des Romans bzw. der Story unterzubringen (nur Emmett braucht mal wieder etwas länger).

Die Platzierung deutet darauf hin, dass Schlafstörungen ein oder vielleicht sogar der zentrale Ausdruck einer beruflichen, familiären oder persönlichen Krise sind, die die betroffene Person tagsüber noch erfolgreich zu bewältigen weiß. Nachts aber rächt sich die Verdrängung im Alltag, und die Auseinandersetzung mit dem in Frage gestellten Lebensentwurf nimmt sich den Platz, der normalerweise dem Schlaf vorbehalten ist.