Die Zeilen durch die Luft fliegen lassen

DICHTUNGSMARATHON Das Poesiefestival würdigt den US-Amerikaner Michael Palmer und reagiert eindrucksvoll auf die Eurokrise

Der literarisch bisher bemerkenswerteste Beitrag des Poesiefestivals 2012 ist ein Kettengedicht

VON JAN SCHEPER

Die Spatzen haben die Ruhe weg. In Scharen belagern sie am vergangenen Wochenende die Terrasse des Cafés der Akademie der Künste am Rande des Tiergartens und fallen über die Kuchenreste her. In ihren freundlichen Singsang hinein legt der chinesische Dichter und Elektro-Musiker Yan Jun im Clubraum der AdK seine Definition vom Schreiben. „Poesie“, sagt der in Peking lebende Versemacher im Gespräch mit der Übersetzerin Lea Schneider „ist wie ein Fußball“. Innen sei sie leer, außen umgeben – wie die Lederkugel – von schwarz-weißen, gleich großen Feldern.

Eines gelte dem Klang, eines der Bedeutung der Worte. Stil, Ästhetik, Metapher – alles lässt sich in Feldern verorten. Entscheidend sei aber der pragmatische Aspekt der Berührung. Wie den Ball könne man ein Gedicht „anfassen“, sich berühren lassen oder eben die Zeilen „durch die Luft fliegen lassen“. Yan Jun zählt zu den zahlreichen internationalen Gästen, die die in Prenzlauer Berg ansässige Literaturwerkstatt zum diesjährigen Poesiefestival Berlin an die Spree eingeladen hat.

Der neun Tage währende Dichtungsmarathon geht 2012 schon ins 13. aufeinanderfolgende Jahr. Das unter der Schirmherrschaft der Deutschen Unesco-Kommission stehende Festival hat längst einen ebenso festen wie selbstbewussten Platz im Literaturzirkus der Hauptstadt eingenommen. Das überwiegend in den Räumen der Akademie stattfindende vielseitige Programm – mit dichtgedrängten Lesungen, Poesiegesprächen, Konzerten und Filmen – ist noch bis zum kommenden Samstag zu sehen, insbesondere aber zu hören.

Bevor am vergangenen Samstag Yan Jun im Werkgespräch angesichts seiner Herkunft noch mal politisch werden darf („jede Form von Propaganda ist leere Poesie“), ist der amerikanische Altmeister Michael Palmer im Werkgespräch „Gegenschein“ am selben Ort zu Gast. Der 69-jährige in San Francisco lebende Dichter zählt in den USA zu den renommierten Vertretern seiner Zunft. Im Berliner KOOKbooks Verlag liegt nun seit Kurzem erstmals ein Auszug seines sich über 20 Bücher erstreckenden Gesamtwerks vor.

Im Gespräch mit Verlegerin Daniela Seel erzählt Palmer ausführlich über seine Anfänge in den frühen 60ern, den Verlauf seiner literarischen Sozialisation und die dafür immens wichtige Vancover Poetry Converence. An dem Treffen, das 1963 stattfand, nahmen auch die damalige Beatgeneration-Ikone Alan Ginsberg sowie Charles Olson (Black Mountain College) oder Denise Levertov teil. Politisierung angesichts des drohenden Vietnamkriegs stand damals ebenso auf der Tagesordnung wie die Suche nach neuen expressiven Schreibformen.

Palmer, wie seine während der Diskussion mit Seel vorgetragenen Texte zeigen, steht nicht in der Tradition narrativ durchorganisierter „story poems“. Seine Gedichte zielen auf das Fragmentarische, das Unabgeschlossene, eine Unterbrechung des gewohnten Lese- und Zeitlaufs. Dies zeigen seine den Ersten Irakkrieg von 1990 thematisierenden Verse.

Ein für Palmer wiederkehrendes Muster in den medialen Bildern des Konflikts war schlicht die Stück für Stück verschwindende Zivilbevölkerung und Kultur im von den US-Truppen besetzten Land. Seine Formulierung ist bitter und eindeutig: „hills like burned pages with words burned into pages“.

Später schließt Palmer mit dem unaufgeregten, aber elementaren Diktum: „Poetry makes nothing happen. It insists on an alternative voice“. Auch der äthiopische Satiriker Hama Tuma, der am Montagabend – neben der ägyptischen Dichterin Fatima Naoot – über sein Schaffen in der Veranstaltung „Und als der Krieg zu Ende war …?“ Auskunft gibt, kennt diese alternative, andere Stimme. Für ihn hat sie ebenfalls politische Qualität. Er lebt seit Langem wegen des Verbots der eignen Texte und seines Einsatzes für Menschenrechte im Heimatland in Paris. Angesprochen auf die Motive Verlust und Wiederkehr im Werk, entgegnet er trocken: „Verlust ist Äthiopien.“ Und doch zeige ihm das Schreiben immer wieder neue Wege, auf den empfundenen Verlust von Identität und Heimat zu reagieren.

Der bisher auch literarisch bemerkenswerteste Beitrag des Poesiefestivals 2012 ist aber ein Kettengedicht. Vor dem Hintergrund der Eurokrise und der Griechenland-Debatte treten am Samstagabend AutorInnen aus allen 27 EU-Ländern und des Beitrittskandidaten Kroatien an, um ein lyrisches Kaleidoskop aus Blickwinkeln zu den innereuropäischen Stimmungen und Spannungen zu entwickeln.

Die in den Originalsprachen vorgetragenen und ins Englische und Deutsche übersetzten Texte sind nicht nur Kritik an den umfangreichen jeweils länderimmanenten Missständen zwischen Börsenwahnsinn und „fußballsüchtigen Stammesvätern“.

Sondern sie schießen wortgewaltig als lauter Aufruf zu einem friedlichen, verständnisvollen Miteinander ins vollbesetzte Studio der AdK. Sotos Stavrakis aus Zypern bringt diesen Tenor auf dem Punkt, indem er den Kontinent und seine Namensgeberin fast liebevoll ermahnt: „Noch hast du Zeit. / Wisch dir die Träne fort, meine Schöne, und steh auf. / Jeder verzeiht gern einer Königin / Denn dadurch fühlt er sich geadelt.“ Dafür schweigen dann sogar die sonst so plauderfreudigen Spatzen auf dem Heimweg.

■ Bis 9. Juni, www.poesiefestival.org