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Die Ausstellung „Raus. Raus? Raus!“ in der Zitadelle Spandau rückt den Auswandererbahnhof Ruhleben ins Zentrum und gibt einen Einblick in die Migrationsgeschichte des 19. Jahrhunderts

Postkarte aus New York, 1898, aus dem Archiv Stadtgeschichtliches Museum Spandau Foto: Archiv Stadtgeschichtliches Museum Spandau

Von Julia Hubernagel

Während am Anhalter Bahnhof mit dem Exilmuseum ein Haus für die vor den Nationalsozialisten geflüchteten Deutschen in Planung ist, wurde mit dem Auswandererbahnhof Ruhleben schon vor zehn Jahren eins der letzten Zeugnisse von Berlins älterer Exilantengeschichte abgerissen.

Von 1891 bis 1914 fungierte der Bahnhof als Knotenpunkt für ausreisewillige Europäer:innen, die sich auf die lange Reise nach Übersee begaben. Eine Ausstellung in der Zitadelle Spandau nimmt sich diesem fast vergessenen Kapitel der Stadtgeschichte nun an.

Über fünf Millionen Menschen aus Osteuropa reisten in dieser Zeit über deutsche Häfen aus. Hatte die irische Migrationswelle schon in den 1850er Jahren ihren Höhepunkt erreicht, so waren ab Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem West­eu­ro­päe­r:in­nen in die USA ausgewandert. Ende des Jahrhunderts wollten auch Litauer, Rumänen, Russinnen und Tschechinnen der Armut in ihren Ländern entfliehen und machten sich über die deutsche Hauptstadt mit dem Zug auf den Weg Richtung Westen.

„Es war, als hätten sie, Deborah und Mendel, nicht freiwillig den Entschluss gefaßt, nach Amerika zu gehn, sondern als wäre Amerika über sie gekommen, über sie hergefallen“, schrieb Joseph Roth in seinem Roman „Hiob“. „Nun, da sie es bemerkten, war es zu spät. Sie konnten sich nicht mehr vor Amerika retten.“

Freiwillig konnte man den Entschluss auszuwandern denn auch wirklich nicht nennen. Neben der Armut war auch der andauernde Antisemitismus für die Emigration jüdischer Ost­eu­ro­päe­r:in­nen verantwortlich.

Feindlich begegnete man den Emi­gran­t:in­nen jedoch auch in Berlin. Ein Fokus der Ausstellung liegt auf den Krankheiten, die die Aus­wan­de­r:in­nen angeblich oder tatsächlich ins deutsche Kaiserreich mitbrachten. Nachdem 1892 in Hamburg eine mutmaßlich von Rus­s:in­nen eingeschleppte Cholera-Epidemie ausbrach, stellte Preußen den Reiseverkehr aus Osteuropa ein.

Aus Angst vor einer finanziellen Pleite nahmen sich so die Reedereien dem Problem an und ließen ärztliche Kontrollstationen an Grenzbahnhöfen, wie am Bahnhof Ruhleben, einrichten.

Diese „Desinfektionsanstalten“ samt Baracken beschwören im Besucher dabei unfreiwillig Erinnerungen an noch folgende Lagerlandschaften. Den Reedereien ging es jedoch vor allem ums eigene Geld: Wurde den Einwander:innen, wenn sie in den USA angekommen waren, die Einreise verwehrt, etwa aus gesundheitlichen Gründen, mussten die Schiffe sie kostenlos wieder zurück nach Europa bringen.

Auch für unverhältnismäßige Strafmaßnahmen wurde der Bahnhof genutzt: So wurde etwa ein russischer Jude zu Unrecht von der Berliner Polizei aufgegriffen und in Ruhleben zum Kauf einer Fahrkarte nach Amerika genötigt.

Um den Ber­li­ne­r:in­nen den Anblick der Durchreisenden zu ersparen, trennte man sie räumlich voneinander

Um den Ber­li­ne­rin­nen und Berlinern den Anblick der Durchreisenden zu ersparen, trennte man sie räumlich voneinander. Dabei nahmen die meisten von dem abgelegenen Auswandererbahnhof erst Notiz, als 1909 in seiner Nachbarschaft die Trabrennbahn eröffnete. Pläne für einen Umzug des Bahnhofs wurden durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch zunichtegemacht.

Die Geschichte des Auswandererbahnhof ist nicht sonderlich gut dokumentiert. Eine immer wiederauftauchende Quelle in der Ausstellung ist daher interessanterweise die Zeitschrift Gartenlaube. Einst als relativ liberales Massenmedium gefeiert, driftete die Illustrierte ab den 1880er Jahren immer weiter nach rechts ab. So finden sich darin nicht nur Zeichnungen, die den Trubel auf den Bahngleisen darstellen, sondern genauso Auslassungen über das Erscheinungsbild russischer Jü­din­nen und Juden sowie deren angeblich verminderten „Reinlichkeitsbegriff“.

Die Ausstellung ist in der Anschauung etwas dünn geraten, hauptsächlich erzählen Informationstafeln die Geschichte des Bahnhofs nach, unterstützt lediglich von einigen Alltagsgegenständen wie einem winzigen englisch-russischen Wörterbuch. Es ist wohl aber auch nicht so leicht, eine Ausstellung rund um ein Gebäude zu konzipieren, das nicht mehr existiert und ohnehin immer weit hinter dem Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven zurückstehen würde, das die deutsche Migrationsgeschichte sehr anschaulich präsentiert.

Der Versuch, mittels des Ukrainekriegs Aktualität herzustellen, ist dabei bestenfalls verwunderlich. Auch heute kämen wieder Tausende Menschen über den Knotenpunkt Berlin, um in andere Länder weiterzureisen, erfährt man. Eine Analogie, die sehr lose geknüpft ist, fliehen die Menschen heute doch vor einem anachronistischen Angriffskrieg und nicht vor Hunger und religiös bedingter Verfolgung.

„Raus. Raus? Raus! Flucht und Migration im 19. Jahrhundert über den Auswandererbahnhof Ruhleben“. Zitadelle Spandau, bis 30. April 2023

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