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Tödliches Attentat schockiert Japan

Ex-Regierungschef Shinzo Abe ist bei einem Wahlkampfauftritt erschossen worden. Er prägte die japanische Außen- und Innenpolitik wie kein anderer

Noch vor seinem Rücktritt als Premier­minister: Shinzo Abe während seiner Amtszeit im April 2020 in Tokio Foto: Franck Robichon/epa

Aus Tokio Martin Fritz

Der frühere japanische Ministerpräsident Shinzo Abe ist einem Attentat zum Opfer gefallen. Bei einer Wahlkampfrede auf einer Straßenkreuzung in der alten Kaiserstadt Nara anlässlich der Oberhauswahl am kommenden Sonntag feuerte ein Mann aus wenigen Metern Entfernung zwei Schüsse aus einer selbstgebauten, doppelläufigen Waffe auf den 67-Jährigen ab. Abe erlitt Schusswunden am Hals und an der linken Brust und brach blutend auf der Bühne zusammen. Umstehende leisteten Erste Hilfe. Auf dem Weg ins Krankenhaus war er noch bei Bewusstsein, dann kam es zu einem Herzstillstand. Fünfeinhalb Stunden nach dem Anschlag gaben die Ärzte in der Universitätsklinik Nara die Wiederbelebung auf.

Der Angreifer, den Sicherheitskräfte unmittelbar nach der Tat überwältigten, wurde als der 41 Jahre alte Tetsuya Yamagami aus Nara identifiziert. Der Mann hatte von 2002 bis 2005 als Berufssoldat bei der Marine der Selbstverteidigungsstreitkräfte gedient. Dort hatte er eine Ausbildung in Waffenbau und Schießen erhalten.

Noch am Tatort erklärte er laut dem öffentlich-rechtlichen Sender NHK, er sei unzufrieden mit dem Verhalten von Abe gewesen und habe beschlossen, ihn zu töten. Sein „Groll“ richtete sich laut Ermittlern aber nicht gegen Abes politische Ansichten, sondern weil der ehemalige Staatschef mit einer „religiösen Gruppe“ verbunden war. Die Aussage des Täters könnte sich auf die ko­rea­nische Vereinigungskirche, auch als Moon-Sekte bekannt, beziehen. Zu dieser soll sich Abe im Vorjahr indirekt bekannt haben.

Die japanische Bevölkerung reagierte geschockt auf den beispiellosen Anschlag. In Japan ist der Besitz von Schusswaffen so stark eingeschränkt, dass die wenigen Anschläge in diesem Jahrhundert fast immer mit einem Messer ausgeführt wurden. Im vergangenen Jahr gab es nur zehn Vorfälle mit Schusswaffen, an denen fast immer Mitglieder des organisierten Verbrechens beteiligt waren. Der Anschlag erschütterte den Mythos von einem sicheren Land mit einem der strengsten Waffengesetze weltweit.

Viele Japaner verspüren auch einen großen Verlust. Abe war zwar nie sonderlich populär gewesen – er hatte das Land nach rechts gesteuert, die Verteidigung stark ausgebaut und damit aufgehört, sich für den japanischen Angriffskrieg in Asien zu entschuldigen. Aber er dominierte die Außen- und Innenpolitik der vergangenen zehn Jahre wie kein anderer Politiker.

Seine neoliberale Wirtschaftspolitik, die auch seine Nachfolger Yoshihide Suga und Fumio Kishida weiterführten, trug sogar seinen Namen: Abenomics. Großzügige Staatsausgaben und eine extrem lockere Geldpolitik sollten das Wachstum ankurbeln. Dafür öffnete Abe Japan so weit wie nie zuvor für ausländische Investoren, Touristen und Arbeitskräfte. Daher beendeten die Schüsse von Nara auch eine Ära in Japan.

Seinen Rücktritt vor knapp zwei Jahren begründete Abe mit seiner schlechten Gesundheit. Aber vor allem wollte er sich Korruptionsskandalen entziehen, die damals überkochten. Seitdem entwickelte sich Abe zur grauen Eminenz hinter den Kulissen. Er kontrollierte die größte Fraktion von Abgeordneten der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan seit 1955 dominiert. So übernahm Premier Kishida nur Dank Abe den Vorsitz der LDP. Zu dessen Ärger verhinderte sein Mentor jedoch seitdem, dass sein politisches Erbe kritisiert und korrigiert wird.

Zuletzt setzte sich Abe für eine rasche und starke Erhöhung der Verteidigungsausgaben ein und plädierte für eine Stationierung von US-Atomwaffen in Japan.

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