: Von Polen bis zur brennenden Ukraine
Die „Nord-Art“ in Büdelsdorf bei Rendburg ist eine Ausstellung der Superlative: Bis Oktober sind in der Carlshütte Werke von 200 Künstler*innen aus aller Welt zu sehen. Gastland ist in diesem Jahr Polen, Schwerpunkte sind China und die Mongolei
Von Esther Geißlinger
Ein langgezogenes Seufzen tönt durch die weite Halle der Carlshütte. Die ehemalige Fabrik mit ihren rauen Wänden, den Metalltreppen und Nischen ist Heimat der Ausstellung „Nord-Art“ und macht die „Weltreise durch die Kunst“, so die Beschreibung im Begleitkatalog, zu einer echten Reise, die besser mit bequemen Schuhen angetreten werden sollte.
Kassel hat die Documenta, Büdelsdorf die Nord-Art: Seit 1999 finden in der Kleinstadt bei Rendsburg jährlich wechselnde Kunstausstellungen statt. In diesem Jahr steht Polen im Fokus, weitere Schwerpunkte sind Werke aus China und der Mongolei. Die diesjährige Nord-Art ist im Vergleich mit den Ausstellungen der vergangenen Jahre sicher nicht die spektakulärste, aber auf dem Ausstellungsgelände, das aus einer ehemaligen Eisengießerei und einem Park besteht, gibt es einiges zu entdecken. Etwa bei der Suche nach der Quelle der klagenden Geräusche, die durch die Fabrik schallen.
Zwei Installationen arbeiten mit Tönen: „Jeder weiß es“ von dem Franzosen Gilles T. Lacombe, der in dem von ihm gestalteten Raum „den Wind in den Schwänzen mongolischer Pferde“ hörbar macht. Und „Man hängt seine schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit auf“ von der Dänin Penille Kofoed, die ein Bettlaken mit einigen Spezialeffekten ausstellt.
Beide Werke findet nur, wer sich schon ein wenig vorgewagt hat in die großen Säle, die teilweise mit knirschendem Kies ausgestreut sind. Chinesische Künstler*innen dominieren den ersten Raum, darunter die großformatigen Wimmelbilder von He Dan, die Menschen stets als Teil von Massen zeigen und dennoch ihre Eigenheiten betonen. Auch das aktuellste Werk der Ausstellung steht dort: Auf einer weißen Platte bilden Papierrollen unterschiedlicher Höhen und mit angebrannten Stellen eine Landkarte. „Ukraine 2022“ heißt das Werk, es ist der neuste Teil aus Qin Chongs Serie „Culture Territories“. Der Künstler formt dabei die Umrisse eines Landes, das sich im Krieg befindet. Rauchgeruch und die Asche der teilweise verbrannten Papierrollen sind Teil der Installation.
Der breite Raum, den die Nord-Art chinesischen Künstler*innen bietet, hängt mit den langjährigen und engen Kontakten von Nord-Art-Kurator Wolfgang Gramm in die chinesische Kunstszene zusammen, deren Mitglieder gern in den hohen Norden kommen. Aber so spannend die Werke sind: Es fehlt eine Einordnung in die Arbeits- und Zensurbedingungen, unter denen sie entstehen. Denn auffallend ist: Auch wenn viele Werke kritisch den Kollektivismus oder Umweltzerstörungen thematisieren, etwa in einer Serie großformatiger Fotos von weggeworfenen Fahrrädern, fehlt der Aspekt der Menschen- und Minderheitenrechte. Offizielle Begründung für den China-Schwerpunkt ist das „50-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen China und Deutschland“.
„Kunst gestaltet die Zukunft. Die Kunst gibt neue Möglichkeiten und öffnet den Geist“, so der polnische Generalkonsul Paweł Jaworsk in seinem Grußwort zur Eröffnung des polnischen Pavillons, in dem im vergangenen Jahr übrigens Kunst aus der Ukraine ausgestellt wurde. Die diesjährige Sonderschau gibt einen Einblick in das Schaffen mehrerer Generationen polnischer Kunstschaffender, die teilweise in Polen, teilweise im Ausland leben. Künstler*innen wie Natalia LL, Robert Bluj oder Michal Jackowski schauen auf den Menschen, dekonstruieren Körper und Gesicht.
Eine drittes Schwerpunkt-Land ist die Mongolei, deren Kunstschaffende oft Traditionen ihrer Kultur mit westlichen Elementen verbinden. Unübersehbar zum Beispiel die gewaltige „Venus“ von Unen Enkh, die den vorgeschichtlichen Elfenbeinfiguren nachempfunden ist, aber hier aus Rosshaar und Draht gefertigt ist.
Mehr als 200 Künstler*innen aus Ländern rund um den Globus, von Ägypten bis Vietnam, sind an der diesjährigen Nord-Art beteiligt. Nicht alle Werke sind neu – einige der großen Skulpturen haben nur ihre Plätze gewechselt, sind etwa vom Park in die Halle gezogen wie die Figuren der „Nachtwache“, eine dreidimensionale Nachbildung des Rembrandt-Gemäldes.
Doch dadurch entstehen neue Bezüge, die das Wiederentdecken ebenso interessant machen wie die Begegnung mit neuen Werken, etwa die „Schuhcharakterköpfe“ des Deutschen Dejo Denzer oder die großformatigen Gemälde des Usbeken Bobur Ismailov. Und es gibt sogar Kunst zum Mitmachen: Gegen eine Spende für ein Frauenprojekt kann eine golden bemalte Kugel an eine Wand geworfen werden, dafür gibt es einen persönlichen Glücksbringer.
Nord-Art in der Fabrik, dem angrenzenden Park und der Wagenremise in der Carlshütte in Büdelsdorf: bis 9. 10., Di–So, 11–19 Uhr; die Anfahrt ist aktuell mit dem 9-Euro-Ticket möglich: Vom ZOB neben dem Bahnhof Rendsburg fahren Linienbusse zur Haltestelle Carlshütte
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