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Erkundung einer Welt aus Krempel, Tod und Müll

Im Techno-Klub zeigt das Staatstheater Braunschweig „Das letzte Leuchten“: Eine Performance von E. L. Doctorows Roman „Homer & Langley“, die ihn nicht dramatisiert

Von Jens Fischer

Unwirtlich wirkt die urbane Landschaft. Aber es gibt eine Oase rustikal improvisierter Heimeligkeit. Im noch nicht strukturgewandelten Teil der industriell geprägten Braunschweiger Nordstadt lockt die freiluftige Leise-Bar hinter einer menschenhohen Lattenmauer in den Laut-Klub. Wände wurden in eine ehemalige Tiefgarage eingezogen und so mehrere Dancefloors geschaffen, designt mit Kunst aus Spraydosen.

Der Außenbereich kontrastiert die karge Coolness und schafft kauzige Gemütlichkeit mit Flohmarktfundstücken, Paletten, Metallschrot, Disco-Kugeln und Grünzeug in Ölfässern. Ein wirklich charmanter Ort der Techno-Kultur ist dieser Klub, dessen Betreiber den Betrieb gerade wieder hochfahren. Zwischendurch nutzt Regisseurin Antje Thoms das Ambiente, um fürs Staatstheater „Das letzte Leuchten“ anzuzünden.

An den Veranstaltungstagen werden Fünfergruppen von Besuchern alle zehn Minuten auf einen Parcours durch die Party-Location getrieben, dabei geschubst und beschimpft von finster gewandeten Geister-Statisten des Hauses. Das Empfangskommando bildet ein selbstgefällig schrulliger Beamter des Braunschweiger Gebäudemanagements in betont schäbigem Anzugschick. Er behauptet, der Klub sei eine Immobilie zweier höchst schräger Typen und müsse nach dem Theaterbesuch gesprengt werden. Zu hören ist eine Kurzfassung der Vorgeschichte der Aufführung, die sich bezieht auf E. L. Doctorows Fiktionalisierung der New Yorker Messie-Brüder Collyer, den Roman „Homer & Langley“.

Sie hatten sich in einer Stadtvilla von der Umwelt abgeschottet. Einerseits. Andererseits saugten sie die Umwelt in ihre Höhle und müllten sie als Trash-Gewölbe zu mit Artefakten ihrer Zeit. Archiviert wurde– vom Ford-T über Klaviere und Schreibmaschinen bis zum Kleinkram des Alltags alles, was irgendwann vielleicht brauchbar werden könnte. Zudem wurden stapelweise Zeitungen und Bücher gesammelt, um mit ausgeschnittenen Texten das Wesen des menschlichen Handelns beschreiben und so die erste und einzige Ausgabe einer universellen Tageszeitung herausbringen zu können.

Bald hatten die Freaks kaum mehr einen Meter Bewegungsfreiheit. 100 Tonnen Sammelsurium wurden nach ihrem Tod aus dem Haus geschleppt, das in Braunschweig nun der Klub sein soll. Auch wenn er picobello sauber und sehr, sehr aufgeräumt ist.

Thoms inszeniert keine Dramatisierung des Buches, sondern eine Situation: das Schwanken zwischen noch irgendwie in der Wirklichkeit verhaftet und gleichzeitig ganz tief verkrochen sein in der eigenen Welt. Zugespitzt in der Behauptung, dass Leben immer auch Tod bedeutet, „jedes Ding immer schon Müll, jedes Gebäude immer schon Ruine und alles Schaffen nichts als Zerstörung“ sei, wie es bei Doctorow heißt.

Alles, was existiert, ist im Vergehen begriffen. Gegen die daraus resultierende Verlorenheit revoltieren die einsiedlerischen Brüder mit ihrem allumfassenden Aufbewahrungswahn. Mit dem lässt sich die „Gewissheit einer festgefügten Welt“ gegen die „unendliche Leere des Denkens ohne Substanz“ illusionieren. Wobei Homer & Langley nicht ikonografische Rebellen, nur Scheiternde an ihren Hoffnungen und Ambitionen sind.

Thoms addiert zu Doctorows Handlungsgerüst Textfragmente von Raoul Schrott, Georges Perec und Judith Schalansky. Im Zentrum steht aber einer der Brüder, der in jedem der sechs Räume von einem anderen winterlich eingemummelten Ensemble-Mitglied auf Schlittschuhen gespielt wird. An der Theke des Klubs stolpert er einem zuerst in den Weg, flüstert von seiner langsamen Erblindung, später von seiner fortschreitenden Taubheit: äußere Zeichen seines Verschwindens aus der Welt. Gefangen in der Einsamkeit seines Bewusstseins – diese Atmosphäre durchströmt die Performance.

Alle Räume sind gruftig dunkel. Aus alten Radios oder Lautsprechern sind gruselkitzelige Geräusche zu hören, hochfrequente Töne, rattiges Gekrabbel oder vogeliges Geschrei

Alle Räume sind gruftig dunkel, aus alten Radios oder Lautsprechern sind gruselkitzelige Geräusche zu hören, hochfrequente Töne, rattiges Gekrabbel oder vogeliges Geschrei. Mal sorgen funzelige Scheinwerfer, mal elektrische Teelichter für scheue Akzente. In einer Museumsvitrine verwest eine Katzenleiche.

Ein Traumraum ist mit funkelnden Einmachgläsern geschmückt, in denen laut Aufschrift Erinnerungen verschlossen sind. In einem Kabuff hinter der Garderobe sitzt eine Darstellerin auf einem Kinderbett und hantiert mit Holzspielzeug. Besonders beeindruckend das Scheinwerferballett im zentralen Saal, dessen Lichtstrahlen durch malerisch wabernden Nebel tanzen, während Metronome gegeneinander tick-tacken. Was sich laut Vorlage in dem Raum türmen soll, besingt ein besonders melancholischer Darsteller am Klavier und lässt so das Abwesende faszinierend präsent werden.

Die Textauswahl wirkt dramaturgisch etwas unbehauen. Mit viel Bedeutungshall werden Sätze prononciert wie „Sind wir nur die Summe unserer Erinnerungen“ oder „nicht alle so unverständlich wie eine Kaffeemaschine“. Ebenfalls recht oberflächlich – angesichts der Zerstörungen des Anthropozäns – gerät die Feier einer neuen Lust auf human unbefleckte Natur. „An dem Tag, an dem die Menschheit verschwindet, beginnt die Natur augenblicklich mit dem Hausputz“, lautet das benutzte Alan-Weisman-Zitat.

Ein Problem des Textes ist die monologische Struktur. Nur in der ersten Szene wird sie etwas interaktiv gestaltet, anschließend fungiert der Besucher vor allem als Eindringling ins monadische Räsonieren der Schauspielenden. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen stimmungsdichten, anspielungsreichen Abend über den Umgang mit dem Tod: einen Versuch, Frieden mit der Vergänglichkeit zu schließen.

Antje Thoms: „Das letzte Leuchten. Ein Theaterparcours“, nächste Aufführungen am 14., 15., 17. und 18. Juni, jeweils zehn Zeitslots ab 19.30 Uhr, letzter Start um 21.10 Uhr. Staatstheater Braunschweig, Laut-Klub, Hamburger Straße 36

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