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Die anderen Soldaten

Die Wehrmacht wollte sie erst nicht haben und hat sie dann als Kanonenfutter benutzt. Ein Buch zeigt: Viele der „Strafdivision 999“ waren Widerständler

Von Otto Langels

Wer nach dem Wehrgesetz von 1935 als gewöhnlicher Krimineller im Zuchthaus gesessen hatte oder wer wegen Schwarzschlachtens, des Hörens von Feindsendern oder sogenannter Rassenschande verurteilt worden war, galt als „wehrunwürdig“. Dazu zählten außerdem politische Widerstandskämpfer, vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten.

Ein amtlicher blauer Schein bestätigte ihnen, dass sie nicht in der Wehrmacht dienen mussten. Dies änderte sich im Verlauf des Zweiten Weltkriegs, nachdem Hitler einen Weltkrieg entfesselt hatte, die deutschen Armeen an mehreren Fronten kämpften und schwere Verluste beklagten.

1942 wurden die Männer, die das Militär bis dahin verachtet hatte, in eine eilig aus dem Boden gestampfte Einheit gesteckt: die „Strafdivision 999“ mit insgesamt 28.000 Zwangssoldaten, davon ein Drittel Nazi-Gegner. Die Wehrmacht setzte sich über Bedenken der Gestapo hinweg, die 999er seien unzuverlässig und könnten den regulären Truppen in den Rücken fallen.

Als Kanonenfutter waren die Zwangssoldaten willkommen. Mit den Worten Adolf Hitlers im September 1942: „Wir werden dafür sorgen, dass nicht nur der Anständige an der Front stirbt, sondern dass der Verbrecher oder Unanständige zuhause unter keinen Umständen diese Zeit überleben wird.“

In seiner lesenswerten Darstellung „Soldaten im Widerstand“ schildert der Historiker Joachim Käppner, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, die wenig bekannte Geschichte der Strafdivision 999, anschaulich erzählt anhand ausgewählter Biografien.

Joachim Käppner: „Soldaten im Widerstand. Die Straf­division 999 1942 bis 1945“. Piper Verlag, München 2022, 416 Seiten, 26 Euro

Genaue Zahlen zu den Verlusten unter den Zwangssoldaten sind nicht bekannt. Käppner spricht von relativ hohen Todesraten. Als illusorisch erwiesen sich zuvor gefasste Pläne der 999er, geschlossen zum Feind überzulaufen. Meist wurden sie auf reguläre Einheiten verteilt, um sie zu isolieren.

Joachim Käppner verweist auf die Lage in Griechenland: „Oftmals haben sie keinerlei Verbindung zueinander, die Kommunikation ist oft gar nicht möglich. Und wo immer ihre Bataillone stationiert sind, nirgendwo sind die organisierten ‚Politischen‘ darin stark genug für einen Aufstand, der Aussicht auf Erfolg hätte.“

Immerhin konnten rund 600 Zwangssoldaten in Griechenland die Seiten wechseln, darunter der Kommunist Wolfgang Abendroth, später in der Bundesrepublik ein bekannter Politikwissenschaftler. Auf der Insel Limnos lernte er griechische Partisanen kennen, versorgte sie mit Informationen und desertierte mit ihrer Hilfe. Andere, die nicht fliehen konnten, knüpften Kontakte zur Zivilbevölkerung, warnten vor Razzien und retteten so vielen Menschen das Leben.

Gedankt wurde es ihnen nach Kriegsende nicht. Briten und Amerikaner machten keinen Unterschied zwischen Zwangssoldaten und regulären Wehrmachtsangehörigen und internierten beide Gruppen in den gleichen Lagern. Dort waren die 999er den Schikanen und dem Terror nazi-treuer Soldaten ausgesetzt, Überfallkommandos fielen nachts über die „Vaterlandsverräter“ her und schlugen sie zusammen.

Bis heute gilt die Zugehörigkeit zur Strafdivision nicht als Verfolgung durch den Nationalsozialismus

Joachim Käppner schätzt, dass allein in den deutschen Lagern in den USA bis zu zwei Dutzend 999er ermordet oder in den Tod getrieben wurden. Aber auch den Davongekommenen blieb nach der Entlassung und Rückkehr nach Deutschland die Anerkennung als NS-Opfer versagt: „Die große Lebenslüge von der ‚sauberen Wehrmacht‘ hatte für jene Soldaten, die sich unter Lebensgefahr der Diktatur verweigert hatten, böse Folgen. Viele fühlten sich weiterhin als ‚Verräter‘ stigmatisiert, litten unter Depressionen oder den Folgen der Haft und der Verfolgung.“

Das Schicksal des Sozialisten Heinz Schröder, das der Autor mit deutlicher Sympathie für die 999er nachzeichnet, steht für viele Zwangssoldaten: 1946 aus den USA nach Ostberlin zurückgekehrt, schließt Schröder sich der SED an, wird aber 1950 ausgeschlossen, weil er als ehemaliger amerikanischer Kriegsgefangener den SED-Genossen verdächtig ist. Schröder zieht nach Westberlin, wird dort 1950 als politisch Verfolgter des Nazi-Regimes anerkannt, doch sechs Jahre später widerruft das Entschädigungsamt die Entscheidung: Er sei nach wie vor Anhänger eines totalitären Systems.

Bis heute gilt die Zugehörigkeit zur Strafdivision nicht als Verfolgung durch den Nationalsozialismus. Ein deutsches Trauerspiel! Joachim Käppners beachtenswerte Darstellung lässt den 999ern die Anerkennung zukommen, die ihnen von offizieller Seite versagt wurde.

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