: Die eine Welt erschaffen
Der Mediävist Michael Borgolte hat die erste Globalgeschichte und damit eine Neubestimmung des Mittelalters vorgelegt
Michael Borgolte: „Die Welten des Mittelalters“. C. H. Beck, München 2022, 1.102 Seiten, 48 Euro
Von Micha Brumlik
Geschichten lassen sich keineswegs nur von und über Personen erzählen – nein, auch Gebäude, Gegenstände, Kunstwerke und sogar geografische Räume weisen einen Ablauf in der Zeit auf, über den sich Geschichten erzählen lassen. Aber auch die Analyse der Gegenwart kann sich auf anderes beziehen als auf handelnde Personen oder Institutionen, nämlich auf Räume: anders wäre nicht zu verstehen, warum heute beinahe alle Gesellschaftsanalysen vom Paradigma der „Globalisierung“ ausgehen.
Das zugrundeliegende Problem hat bereits Richard Wagner in seinem „Parsifal“ genannt, als Gurnemanz zu Parsifal sagt: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“ In diesem Sinne hat nun der in Berlin lehrende Mediävist Michael Borgolte ein Opus magnum vorgelegt, das noch auf lange Zeit unüberholt bleiben wird: eine Globalgeschichte jener tausend Jahre, die wir als „Mittelalter“ zu bezeichnen gewohnt sind – also eines Zeitraums der etwa vom Untergang des Römischen Reiches bis zur Entdeckung Amerikas reichte.
Dabei kommt es Borgolte vor allem darauf an, nachzuweisen, dass das Mittelalter eben nicht nur jenes „christliche Abendland“ darstellt, das die Älteren von uns noch so in der Schule vermittelt bekamen, sondern dass es sich von Anfang an – also nach dem Untergang des Römischen und des oströmischen Reiches – über einen Raum erstreckte, den Borgolte als „Eufrasien“ bezeichnet: Europa, das nördliche Afrika sowie Kleinasien bis nach Arabien – eine Region, die sich vom heutigen Spanien bis in den östlichen Mittelmeerraum erstreckt.
Diese geografischen Räume waren sehr viel enger miteinander vernetzt als bisher wirklich bekannt – geografische Räume, die von der Existenz großer Reiche geprägt wurden: „Ausdehnung, Menge und Streuung der Imperien in den drei zusammenhängenden Kontinenten Asien, Afrika und Europa“, so Borgolte, „lassen deshalb ein Urteil über den Grad von ‚Globalisierung‘ zu …“
Im Einzelnen kann Borgolte dann nachweisen, dass und wie nicht zuletzt Religionen, vor allem das Christentum, der Islam und sogar das zahlenmäßig sehr viel geringere Judentum zu Treibern dieser Globalisierung wurden – Treibern, die aber immer auch auf das allerengste mit kaufmännischer Kommunikation, sprich mit Handel verbunden waren. Doch bleibt Borgolte auch bei dieser Betrachtung nicht dem sogenannten abendländischen Paradigma verhaftet, reicht doch sein Blick auch auf die Handelsbeziehungen Eufrasiens mit Indien und dem China des Konfuzius.
Gleichwohl zögert Borgolte nicht mitzuteilen, dass Christen und Muslime als „Wegbereiter der Globalisierung“ in jenem „Mittelalter“ gelten können. Besonders wichtig für diese Prozesse war der östliche Mittelmeeraum bis hin zum östlichen Iran – ein Gebiet, in dem sich nicht nur die Religionen durchmischten, und zwar so, dass sich aller Gewalt zum Trotz Chancen eröffneten, Wissen über den Horizont der eigenen Gemeinschaft hinweg zu erwerben.
Vor diesem Hintergrund gewinnen sogar gewisse Annahmen des gegenwärtigen russischen Imperialismus, der sich der Ideologie des „Eurasischen“ verschrieben hat, eine gewisse Plausibilität. War doch etwa der Mongolenkönig Dschingis Khan mit seinem Reich der „Goldenen Horde“ Protagonist und Förderer eines regen Handelsverkehrs zwischen dem östlichen Russland und dem sehr viel weiter gelegenen Usbekistan: eines Handelsverkehrs, in dem es vor allem um Bekleidung und Textilien, aber auch um Genussmittel wie Wein ging.
Minder bekannt ist, dass die mongolischen Herrscher zunehmend zum Islam konvertierten. Diese von Borgolte sorgfältig wiedergegebenen Handelsbeziehungen werfen in der Tat ein neues Licht nicht nur auf die Geschichte Russlands, sondern auch des westlichen Europa: dass dessen Entwicklung der mongolischen Herrschaft ungemein viel verdankt, war so bisher kaum zu lesen. Es ist nicht erst heute so, dass China und seine Wirtschaft eine erhebliche Rolle für Europa spielen – bei Borgolte lässt sich nachlesen, dass das schon vor sechshundert Jahren so war.
Daher Borgoltes Fazit: „Araber, Perser, Südostasiaten und Chinesen, Christen, Muslime, Juden und Buddhisten schlossen miteinander Geschäfte ab, konnten einander auf den Wegen ihres Handels auch ergänzen und vertreten. ‚Das Mittelalter‘ hat vor allem durch sie die Weichen für die Globalisierung gestellt. Am Ausgang der Periode war es wiederum weder das Streben nach größeren Herrschaften noch nach der Verbreitung religiöser Botschaften, Lehren und Kulte, die die Welt der drei Kontinente aufbrachen, sondern es waren die Interessen am Profit mit Handelsgütern aus der Ferne.“
Damit ist eine Perspektive eröffnet, die sich sowohl von einer marxistischen als auch einer weberianischen Historiografie unterscheidet: zwar sind religiöse Ideen als Treibsatz ebenso berücksichtigt wie auch Profitinteressen, indes ist es nicht der Wille zur Aneignung von Mehrwert und auch nicht der Wille zur Mission, sondern die nach Nachfrage sowie die Lieferung begehrter Gebrauchsgüter, die schon vor mehr als 600 Jahren die eine Welt erschufen.
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