Neun Ideen für die Verkehrswende

Nächste Woche startet das 9-Euro-Monatsticket.Doch dabei darf es nicht bleiben. Neun Vorschläge für die nahe Zukunft – und vier Geschichten aus dem Nahverkehr

Foto: Florian Gaertner/photothekIimago

Von Anja Krüger

Kaum war das 9-Euro-Monatsticket für den Nahverkehr zu haben, wurde es hunderttausendfach gekauft. Dabei gilt die bundesweite ÖPNV-Flatrate erst ab kommender Woche. Wenn der Preis stimmt, sind öffentliche Verkehrsmittel also populär. Aber: Die Furcht ist zu Recht groß, dass Busse und Bahnen dem Ansturm nicht gewachsen sein werden. In den kommenden Wochen wird es auf vielen Strecken eng werden. Denn der ÖPNV ist viel zu abgerockt, um dem Run standzuhalten. Was muss passieren, damit der Nahverkehr in fünf Jahren ­super läuft?

1 Leute, Leute, Leute!

Die Verkehrsbranche braucht dringend mehr Leute – da sind sich die Gewerkschaft Verdi und die Arbeitgeber ausnahmsweise einig. Bereits heute fehlen 15.000 Beschäftigte, Tendenz steigend. Die Folgen: Fahrten fallen aus, mitunter müssen Verkehrsbetriebe ganze Linien einstellen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist fast jeder fünfte Job im ÖPNV weggefallen. Das rächt sich.

Heute arbeiten im Fahrdienst rund 96.000 Beschäftigte, hinzu kommen rund 55.000 Mit­ar­bei­te­r:in­nen in der Technik und in der Verwaltung. Zehntausende weitere werden in den nächsten Jahren gebraucht, denn die politischen Ziele für den ÖPNV sind durchaus ehrgeizig. Bis 2030 soll sich die Zahl der Fahrgäste verdoppeln, ein Drittel mehr Busse und Bahnen sollen dann fahren. Doch bis dahin müssen allein 50 Prozent der Beschäftigten ersetzt werden, weil so viele in Rente gehen. Doch neue Leute zu finden, ist schwer.

Ein Problem ist das Einkommen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel – die Gehälter variieren je nach Region und Berufserfahrung – verdienen Bus­fah­re­r:in­nen als Einstiegsgehalt nach Angaben von Verdi 2.646 Euro im Monat, hinzu kommen Zuschläge von im Schnitt 350 Euro. Das ist weniger als das Durchschnittseinkommen. Der Personalmangel verschärft den Stress, Mit­ar­bei­te­r:in­nen müssen Pausen ausfallen lassen und Doppelschichten schieben, Busse fallen aus. „Die Arbeitsbedingungen müssen besser werden, damit der Job attraktiver wird“, sagt Verdi-Mann Oliver Nüsse, der für das Ressort Busse und Bahnen zuständig ist.

2Clever einkaufen

Schienen, Züge, Haltestellen, Bahnhöfe, Busse, Straßenbahnen –was heute nicht bestellt wird, fehlt in fünf Jahren. „Wir brauchen mehr Züge und längere Züge“, sagt Verkehrsforscher Dirk Schneidemesser vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Potsdam. Auch mehr Busse und Bushaltestellen sind nötig. Schon heute sind die Fahrzeuge im Berufsverkehr überfüllt. Deshalb ziehen es etliche Pend­le­r:in­nen vor, mit ihrem Auto im Stau zu stehen. Da können sie wenigstens bequem sitzen.

Die Anschaffung neuer Fahrzeuge ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch einer klugen Planung. „Züge und Busse kann man nicht einfach kaufen wie ein Auto“, sagt Schneidemesser. Sie müssen lange vorbestellt werden. Die Industrie braucht das Sig­nal, dass neue Fahrzeuge erwünscht sind. Nur dann investiert sie in neue Technik. Busse zu bekommen, ist für Verkehrsunternehmen nicht einfach, wenn der Markt wie jetzt leergefegt ist – erst recht, wenn es E-Busse sein sollen. Bis 2030 soll in Deutschland jeder zweite Bus elektrisch fahren.

Auch autonom fahrende Busse, die kei­ne:n Fah­re­r:in brauchen, könnten den Nahverkehr einen gewaltigen Schritt voranbringen. Mit ihnen könnten auf unkomplizierten Strecken dichte Takte angeboten und viele Menschen transportiert werden. Das wäre günstig und würde den Personalmangel abfedern. Das autonome Busfahren ist kein Projekt mehr für spätere Generationen, es kann bald kommen. Bundesweit gibt es Dutzende Pilotprojekte. Gerade hat der Bundesrat den rechtlichen Rahmen geschaffen, damit sie in den Regelbetrieb gehen können.

3Tote Gleise wiederbeleben

Buslinien können schnell und unkompliziert eingerichtet werden. Aber neue Schienen zu verlegen, dauert Jahrzehnte. Zig Instanzen in Gemeinden, Kreisen und Verkehrsverbünden wollen mitreden, Genehmigungen ziehen sich hin. Die Reaktivierung stillgelegter Strecken geht hingegen schneller.

Das Potenzial ist enorm. Der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) und die Organisation Allianz pro Schiene haben mehr als 230 Strecken identifiziert, die für eine Wiederinbetriebnahme in Frage kommen. Würden diese mehr als 4.000 Kilometer Gleise wieder regelmäßig befahren, könnten 291 Orte und mehr als drei Millionen Menschen einen direkten Zugang zur Bahn bekommen, die heute von Schienennetz abgeschnitten sind.

„Die Reaktivierung stillgelegter Strecken steht für das Comeback der Schiene in der Fläche“, sagt Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene. Das Interesse ist vielerorts groß, Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r:in­nen und Wirt­schafts­ver­tre­te­r:in­nen wollen die Anbindung an die Bahn.

4Busse nach Bedarf

Auf dem Land gibt es oft kaum Busse oder Bahnhöfe. Dörfer und Städtchen sind vom öffentlichen Verkehr vielfach abgekoppelt. Fahren Busse, sind sie oft leer, weil mit einer Fahrt am Tag auch nicht viel gewonnen ist. Taxis sind teuer. Neue Lösungen sind gefragt: In rund 40 deutschen Städten gibt es Pilotprojekte mit Rufsammeltaxis. Interessierte buchen über eine App eine Fahrt, werden von dem Fahrzeug an ihrem Standort abgeholt und ans gewünschte Ziel gebracht. Unterwegs steigen weitere Fahrgäste in die Minibusse ein. Der Computer errechnet die beste Strecke, damit die Fahrt auch effektiv ist. Das kostet die Fahrgäste in der Regel etwas mehr als ein ÖPNV-Ticket, ist aber billiger als ein Taxi. Mit solchen Angeboten können Leute auf dem Land mobil werden – wenn sie denn nicht zu teuer sind.

5Dem Auto die Vorfahrt nehmen

Autofahrende tun gerne so, als wären sie die Melkkühe der Nation. Das ist falsch. Das Autofahren wird mit vielen Milliarden Euro vom Staat subventioniert. Zum Beispiel mit dem Dieselprivileg, der Pendler:innenpauschale, der Förderung von Dienstwagen, der Kaufprämie für E-Autos und Hybridwagen oder dem Bau von Straßen und Parkplätzen. Von den nicht geltend gemachten Kosten für Umwelt- und Gesundheitsschäden gar nicht zu reden. Müssten Autofahrende die tatsächlichen Kosten tragen, die sie verursachen, würden viele Haushalte zumindest auf das Zweit- oder Drittfahrzeug verzichten und so mehr Platz lassen für den ÖPNV.

Busse und Straßenbahnen, die neben Autos im Stau stehen, sind nicht attraktiv. Deshalb müssen sie Vorfahrt bekommen, etwa auf speziellen Spuren, mit Ampelvorrangschaltungen oder durch das Sperren von Straßen für Pkw. Auch das Parken von Autos muss teurer werden, fordert Verkehrsforscher Schneidemesser. „Die Gebühren für die private Nutzung des öffentlichen Raums müssen enorm angehoben werden, um die Kosten zu decken.“ Das Geld, das durch den Abbau der Autosubventionen flüssig wird, kann der Staat in den Ausbau des Nahverkehrs stecken.

Das Problem: Für Kommunen ist es schwierig, Maßnahmen gegen die Pkw-Dominanz durchzusetzen, solange das Straßenverkehrsgesetz und die Straßenverkehrsordnung dem flüssigen Autoverkehr Vorrang einräumen. Immerhin: SPD, Grüne und FDP haben sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, das Straßenverkehrsgesetz so anzupassen, dass der flüssige Autoverkehr nicht mehr das entscheidende Kriterium bei städtebaulichen Veränderungen ist.

6Niedrige Preise

Nur ein günstiger ÖPNV ist ein attraktiver. Die Preise sind in den vergangenen zwanzig Jahren im Nahverkehr doppelt so stark gestiegen wie die Unterhaltskosten für einen Pkw. Wenn das 9-Euro-Ticket im September ausläuft, werden die meisten Verkehrsunternehmen wohl zu den alten Preisen zurückkehren.

Müssen mehrere Leute einen Einzelfahrschein lösen, ist Autofahren selbst bei hohen Parkgebühren fast immer billiger. Eine Fahrt von Mönchengladbach ins knapp 30 Kilometer entfernte Düsseldorf kostet pro Person 13 Euro – für zwei Personen hin und zurück also 52 Euro. Selbst wenn das Parkhaus 30 Euro kostet, ist die Fahrt mit dem Auto viel billiger. Deshalb ist das 9-Euro-Ticket so attraktiv: Damit wird der ÖPNV tatsächlich günstiger als das Autofahren. Menschen mit geringem Einkommen werden damit überhaupt erst mobil.

Einzeltickets müssen viel billiger werden, Monatskarten oder Jobtickets auch. Vorbildlich: In Bielefeld gibt es in einem Pilotprojekt eine Monats­fahrkarte zum Mietvertrag für 12,50  Euro.

Die konkrete Utopie: autofreie Innenstädte – und eine nachhaltige Mobilität auf langen Strecken mit dem Zug

7Tarifdschungel lichten

Kaum ein Mensch durchschaut das Wirrwarr der Tarife im Nahverkehr. Die Preise sind je Verkehrsverbund höchst unterschiedlich, der Geltungsbereich für eine Standardfahrkarte auch. Landesweite Tarife gibt es nur in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen und im Saarland, nur Berlin und Brandenburg haben einen länderübergreifenden Verkehrsverbund. Der Ticketkauf über mehrere der rund 50 Verkehrsverbünde hinweg ist kaum machbar.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) will das ändern und bis Herbst einen Maßnahmenkatalog vorlegen. Das klingt gut, ist aber eigentlich nicht seine Baustelle, denn dafür sind Länder und Kommunen zuständig. Die Gefahr ist groß, dass es sich nur um ein Manöver handelt, mit dem Wissing davon ablenkt, dass er das Finanzierungsproblem im ÖPNV verschleppt.

8Money, Money, Money

Damit die Nahverkehrsbranche sich für die Zukunft aufstellen kann, braucht sie viel Geld. ÖPNV ist nahezu auf der ganzen Welt ein Zuschussgeschäft. Auch in Deutschland steckt der Staat jedes Jahr eine zweistellige Milliardensumme in den Nahverkehr. Aber das reicht nicht.

Verkehrsminister Wissing weigert sich, den Ländern die von ihnen geforderten 1,5 Milliarden Euro für 2022 zu geben. Bevor er mehr Geld herausrückt, will er eine Qualitätsanalyse vorgelegt bekommen. Doch jeder Monat, um den der Ausbau des ÖPNV verschleppt wird, macht die Lage schwieriger.

Allein um die Kosten für den zusätzlichen Personalbedarf bis 2030 zu decken, sind jährlich zusätzliche 4 Milliarden Euro erforderlich. Für den Ausbau der Infrastruktur und die Anschaffung von Fahrzeugen ist mindestens das Doppelte erforderlich.

9Verbote wagen

Der bestens ausgebaute ÖPNV nützt nicht viel, wenn nicht gleichzeitig das Auto zurückgedrängt wird. Auch mit Verboten und Sperrungen für den Durchgangsverkehr. Denn auch Bequemlichkeit hindert etliche Menschen daran, auf den öffentlichen Verkehr umzusteigen – selbst wenn die Haltestelle vor der Tür ist. Wer seinen Pkw abschafft, sollte eine Prämie bekommen und kostenlos Bus und Bahn fahren dürfen. Wer ihn behalten will, sollte kräftig dafür zahlen, dass er oder sie Menschen gefährdet, die Luft verpestet, Ressourcen verschwendet und die Lebensqualität anderer drastisch beeinträchtigt. Instrumente dafür wären eine City- und Straßenmaut, konsequente Parkgebühren und eine viel höhere Kfz-Steuer. Die konkrete Utopie: autofreie Innenstädte – und eine nachhaltige Mobilität auf langen Strecken mit dem Fernzug.

Im Faltenbalg eins mit dem Zug

Als Kind getrennter Eltern fuhr ich in den Ferien öfter mit dem Zug von Berlin nach Saarbrücken. Im ICE 1 gab es in den Rückenlehnen Bildschirme, die Filme zeigten, wie im Flugzeug. Ich fühlte mich wie in einem durch das Land rasenden 4-Sterne-Hotel. Bis Mannheim. Da war ich gezwungen, umzusteigen, in eine Regionalbahn.

Den Regio bestieg ich über eine Treppe aus Metallgittern, das ließ den Komfortverlust schon erahnen. Doch das Wandern durch den Zug, auf der Suche nach einem Sitzplatz, hielt ein Erlebnis bereit, mit dem kein Schnellzug mithalten konnte. In meiner Erinnerung war das so: Am Ende eines Waggons stoße ich auf eine Tür mit leuchtendem Knopf. Ich drücke, es zischt wie bei Star Trek, die Schiebetür verschwindet, der Weg ist frei in das Innere eines dunklen Ungetüms – der Faltenbalg. Tosendes Rappeln, Rumpeln und Quietschen, das Trommelfell zuckt empfindlich – ich trete trotzdem ein. Mein Blick fällt auf meine Füße. Sie stehen auf zwei Metallplatten, die übereinander liegen und sich verschieben, sobald der Zug in eine Kurve fährt. Das Gehirn gibt den Befehl zur sofortigen Evakuierung – aber ich bleibe. Die Schiebetür zischt noch mal und schließt sich hinter mir. Ich schließe die Augen und werde eins mit dem Zug.

Es gibt sie heute in nahezu allen Zügen, diese Ziehharmonika-Gelenke aus Gummi. Aber mit Fortschritt und Komfortmaximierung wird der Faltenbalg immer unsichtbarer. Im ICE bemerkt man ihn kaum, so nahtlos ist er eingepasst in die vertäfelten Wände. Vielleicht begebe ich mich diesen Sommer mal auf Reliktsuche. Denn nirgendwo sonst fühlt man sich einem Zug so nah wie im Faltenbalg eines Regionalzuges der späten 1990er Jahre. Nora Belghaus

Mit dem Bus in die Freiheit

Ein Busfahrer war es, der mir den Weg zur Freiheit wies, und das ging so: Als Kind war ich oft bei meiner Oma, die lebte am Rande einer Kleinstadt. Wenn wir durch die Fußgängerzone bummeln wollten, nahmen wir die Linie 2, und die fuhr stets pünktlich ab – denn meine Oma wohnte an der Endhaltestelle. Dort legten die Fahrer eine Pause zwischen ihren Touren ein, vertraten sich die Beine, rauchten. Ich war vier oder fünf, als ich bettelte, allein mit dem Bus fahren zu dürfen. Hand in Hand gingen wir zur Haltestelle, meine Oma erklärte dem Fahrer mein Expeditionsbegehren, der schien es ulkig zu finden, und so thronte ich schräg hinter ihm und tuckerte ans andere Ende der Stadt. Dort stieg der Fahrer aus, biss in ein Wurstbrötchen, bot mir einen Happen an. „Nein, ich passe so lange auf den Bus auf“, sagte ich. Als wir nach anderthalb Stunden zurückkamen, stand meine Oma wieder an der Haltestelle, und ich erzählte ihr, was ich alles gesehen hatte. Später, als ich ferne Länder bereiste, machten wir es jahrelang noch genauso. Katja Kullmann

Mit dem Sonderzug nach Sylt

Ich muss im Fieberwahn gewesen sein, als ich ausgerechnet Sylt buchte. Vor allem ich, die ja schon die Krise kriegt, wenn sie nur einen Barbourjackenträger sieht. Wie soll das dann erst werden, wenn sie im Rudel auftreten und mit Champagner rumspritzen? So viel zu meinen Vorurteilen, die durch zu viel Fernsehen und „Faserland“ befeuert worden waren. Doch dann bekam ich Corona und mit der Infektion die fixe Idee vom „Reizklima“. Also schnell eine Zugfahrt von Berlin nach Westerland gebucht, das Airbnb war billig und sah schnuckelig aus.

Doch auch ohne 9-Euro-Ticket ist die Fahrt zur Nordseeinsel, nun ja, speziell: Als ich in Hamburg Altona in den Bummelzug nach Sylt umsteige, kündigt mir mein kaputter Handy-Akku an, dass er dringend geladen werden muss. Doch wo bitteschön gibt es im Regionalzug eine Steckdose? „Nur in der ersten Klasse“, sagt die Schaffnerin schadenfreudig, erlaubt mir nach einigem Hin und Her dann aber doch, mich „gaaaaanz kurz“ im VIP-Bereich aufzuhalten, um zumindest ein paar Prozent in die Batterie zu kriegen. Und wen treffe ich da? Udo Lindenberg! Der sitzt zwei Reihen weiter mit obligatorischem Hut und Sonnenbrille. Nicht im Sonderzug nach Pankow, sondern in der Bummelbahn nach Sylt. Toll! Als der Zug dann für ein paar Minuten an einem Bahnhof stehen bleibt, schlurft Udo vor die Tür, um die letzten Reste einer dicken Zigarre zu rauchen. Und während er da so steht, arschcool natürlich, kichern zwei Fahrgäste um die 60 so aufgeregt wie Teenager.

Udo ist dann aber auch der einzige Promi, dem ich während meiner Reise begegnet bin. Während sich Reich und Schön vor allem im Norden der ­Insel aufhalten, bestehen die Gäste meines Ortes überwiegend aus Funktionsjackenträgern und Schulklassen. Und eine Fahrt zur nördlichsten Fischbude Deutschlands würde mit dem Bus rund anderthalb Stunden dauern. Die erste und zweite Klasse, die gibt es leider nicht nur bei der Deutschen Bahn.

Anna Fastabend

Einfach mal losfahren

Im Jahr 1995 führte die Deutsche Bahn das Schöne-Wochenend-Ticket für Regionalzüge ein, das kostete 15 Mark und galt tatsächlich das ganze Wochenende. Wir waren in der Oberstufe, hatten viel Zeit, aber wenig Geld. Und ja, vielleicht hatten wir auch ein bisschen viel Jack Kerouac gelesen, unterwegs sein, nicht um irgendwo anzukommen, sondern als Zweck an sich. Die reine Bewegung als Ziel. Zwei Freunde und ich beschlossen, das Ticket maximal auszureizen, für eine Nacht von Freiburg nach Berlin, über 800 Kilometer one way, nur mit Regionalzügen, also neunmal umsteigen. Samstag früh los, dann die Nacht durchmachen, Sonntag früh in den Zug, wieder neunmal umsteigen, Sonntagabend spät zurück in Freiburg.

Wie’s war? So genau kann ich mich nicht mehr erinnern, nur dass wir, als wir endlich in Berlin angekommen waren, gar keinen Plan hatten, was wir da wollten. Irgendwann standen wir in einem Irish Pub voller Touristen, die frühen Morgenstunden verbrachten wir vor einer Schale Milchkaffee im Schwarzen Café am Savignyplatz – und die Rückfahrt zog sich auf den roten Plastiksitzen ewig. Aber trotzdem: Irgendwie war es großartig. Jack Kerouac hatte recht, manchmal muss man einfach losfahren.

Jan Pfaff