Auftauchen eines Geschichtenerzählers

Lange hat man nichts mehr von Andy Roddick gehört, der ehemaligen Nummer eins der Tenniswelt. Jetzt hat der Amerikaner einen neuen Trainer und arbeitet an einer neuen Taktik – in Wimbledon will er wie im Vorjahr ins Finale

WIMBLEDON taz ■ Auf den roten Doppeldeckerbussen, die zwischen dem All England Club und der nächstgelegenen U-Bahn-Station verkehren, ist Andy Roddick als Werbefigur eines Kreditkarten-Unternehmens jeden Tag präsent. Seit Jahren ist er einer der populärsten Partner der Firma. Berühmt ist mittlerweile jener Streifen, in dem er als Fluggast einen riesigen Pokal in der Gepäckablage deponiert, der ihm wenig später mit Karacho auf den Kopf fällt; er sieht herrlich dämlich dabei aus. Dass Andy Roddick aus Austin/Texas, mittlerweile 22 Jahre alt, aber auch in der Welt des Tennis was Besonderes ist, ist beinahe in Vergessenheit geraten. Daheim in den Staaten hat sich die Aufregung gelegt, die nach seinem Sieg bei den US Open 2003 entstanden war. Und dass er vor einem Jahr in Wimbledon das Finale gegen Roger womöglich nur deshalb verloren hat, weil es mittendrin zu regnen begann und sich der Schweizer in der Pause sammeln konnte, ist auch nicht mehr jedem präsent. Zwölf Wochen lang, zwischen November 2003 und Februar 2004, ist Roddick die Nummer eins des Tennis gewesen, danach ein Jahr lang die zwei, zurzeit ist er die vier. Ein gewaltiger Abstieg, oder nicht?

Sein neuer Coach Dean Goldfine, mit dem er seit der Trennung von Brad Gilbert vor gut einem halben Jahr arbeitet, hat dieser Tage berichtet, nach der Rückkehr aus Melbourne vom ersten Grand-Slam-Turnier 2005 sei Andy in der Heimat gefragt worden: „Was ist schief gelaufen in Melbourne?“ Dabei war er erst nach einem ehrenwerten Versuch im Halbfinale gegen Lleyton Hewitt gescheitert. „Keine leichte Situation“, sagt Roddick, „wenn du der Zweitbeste in deinem Job bist und die Leute darüber spekulieren, was bei dir falsch läuft.“ Sein langjähriger amerikanischer Bekleidungsausrüster hat sich entschieden, den Vertrag nicht zu verlängern. Seitdem spielt Roddick in französischen Hemden, aber das gefällt den Landsleuten auch wieder nicht. Zugegeben, er hat die Gegner mit seinem hammerharten Aufschlag und der gewaltigen Vorhand schon mehr erschreckt. Drei Titel hat er 2005 gewonnen, den letzten davon kurz vor Beginn der Championships im Queen’s Club, aber der letzte Sieg bei einem Mastersturnier liegt schon mehr als ein Jahr zurück. Wofür es eine sinnvolle Erklärung gibt: Der junge Mann sucht nach einem sinnvollen Spielsystem.

Brad Gilbert wollte, dass er öfter ans Netz geht, doch mit dieser Vorstellung kam Roddick nicht zurecht. Dean Goldfine, der neue Mann, meint, Roddick sei dabei, das Verhältnis von Risiko und Lohn in der Taktik neu zu definieren. Aber Taktik ist ja nicht alles. Beim Erfolg in der zweiten Runde gegen den frechen Italiener Daniele Bracciali gewann Roddick zum ersten Mal seit mehr als anderthalb Jahren wieder ein Spiel in fünf Sätzen, und hinterher sagte er, das sei ihm verdammt wichtig gewesen. Seitdem sind ein paar Tage vergangen, und vieles spitzt sich auf die Wiederholung der Variante des Vorjahres zu, mit Roger Federer und Roddick.

Der genießt derweil weiter das beschauliche Dasein eines Gastes im guten alten Wimbledon; wie viele der Kollegen hat er in der Nähe des All England Clubs ein Häuschen gemietet. Er sagt, der einzige Moment, in dem die Idylle ein wenig ins Wanken gerate, komme morgens, wenn der Nachbar ziemlich früh zum Wohle der Pflanzen mit dem Wasserschlauch hantiere. Wenn er Geschichten wie diese erzählt, ist er nicht zu schlagen.

DORIS HENKEL