JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE
: Am Anfang war das Gefahrenfeuer

Sind Sie aus Sicherheitsgründen so komisch? Oder aus Deutschland? Kolumne mit zu erfühlender Stoßrichtung

Ich habe letztens, also gefühlt letztens, irgendwo gelesen, dass „gefühlt“ jetzt nicht mehr gern gesehen, ja: direkt verpönt ist. Dass man z. B. nicht mehr sagen und schon gar nicht mehr schreiben sollte, man habe z. B. gestern Abend gefühlte 312 Stunden bei einem Worldmusic-Konzert mit Didgeridoo, Flöte und Bongos zugebracht. Der schöne und praktische Hilfsausdruck, erst vor gefühlt achtzehn oder so Monaten eingeführt, d. h. seinem Mauerblümchendasein im Meteorologenjargon enthoben: schon liegt er da, schlaff, fahl, ausgelutscht.

Inflationiert und unbrauchbar gemacht von kessen Moderatorinnen, gewitzten Redakteuren und ihren Nachplapperern, innerhalb kürzester Zeit, als hätten wir noch ganze Kofferräume voll mit mindestens ebenso schönen und praktischen Hilfsausdrücken. Schön wäre es, wenn etwas mehr Acht gegeben würde auf solche Ausdrücke, denn sie wachsen nicht auf Bäumen wie Schweini-Frisuren, die dann eben nach zwei Wochen „original gar nicht mehr gehen“, aber dann macht der Uli Hoeneß dem Schweini halt eine neue. Ein Freund, der Physiker Dr. Murtle, berichtet, er habe letzthin bei einem Worldmusic-Konzert mit Didgeridoo, Flöte und Bongos eine ganz erstaunliche Zeitdilatation erfahren, es habe ihn vor allem verblüfft, wie einer es schaffe, 312 Stunden lang die Zirkuläratmung aufrechtzuerhalten. Das ist jetzt auch eine schöne Formulierung, und um nicht gleich wieder mit der Inflation anzufangen werde ich sie nicht wiederholen.

Aber: Ich hatte das letztens auch. Ohne Didgeridoo, dafür mit der Deutschen Bahn. Knappe 40 Stunden war ich von Köln nach Berlin unterwegs. Nein, nein, nicht was Sie denken: Es waren tatsächlich nur gefühlte 40 Stunden, trotz Bahn. Davon reden wir ja. Ich bestieg den Zug um 2.11 Uhr nachts, und als um vier eine Uniformierte, das Wort „Personalwechsel!“ blökend, den ganzen, in kaltem Schweiß sich windenden, friedlos dösenden Zug aufweckte, um einmal mehr alle Fahrkarten zu kontrollieren, fragte ich sie endlich, ob denn geplant sei, an einem Punkt in unserer Reise – und, hey, warum zum Beispiel nicht jetzt sofort? – die grelle Neonbeleuchtung in den Wägen ab- bzw. auf eine weniger grelle, dösfreundlichere umzuschalten. „Nee, kann ich nicht ausmachen. Manche Reisenden wollen ja im Licht sitzen.“ Um mich herum glotzten sinnlos schwarzgeränderte Augenhöhlen. Aber haben die für diesen Fall nicht ihre individuelle Sitzbeleuchtung? „Ja. Aber außerdem ist das kein Nachtzug.“ Aber es ist doch Nacht und dies ist ein Zug. „Nee, das ist ein IC. Und überhaupt, aus Sicherheitsgründen.“ Damit verließ sie mich. Aus Sicherheitsgründen.

Aus Sicherheitsgründen sitzen auch die grellen „Gefahrenfeuer“ (funky Name für ein besseres rotes Blinklicht) auf den beiden Windkrafträdern, die seit sechs Wochen bei uns daheim im Chiemgau stehen und von denen ich zuletzt berichtete, na gut, äh: zwanglos plauderte, worauf ich ein paar recht emotionale E-Mail-Reaktionen erhielt, die den Verdacht nahe legten, dass zwangloses Plaudern vielleicht nicht der richtige Weg ist, sich dem emotionalen Thema Windkraft zu nähern (ich habe Frau Kratzer versprochen, mich demnächst seriöser zu der Thematik zu äußern, komme aber noch nicht dazu, weil sie so komplex ist; ich glaube jedoch, ich reife zu einem Windkraftgegner heran).

Die schockblinkenden Gefahrenfeuer sollen den Luftraum vor dem Windrad warnen, obwohl durch den Raum bei uns eigentlich nie was durchfliegt. Letzthin wurde mir die Ehre zuteil, in Guatemala an einem Vulkantrichter zu stehen, aus dem Lava spotzte. Wir standen zwischen frisch erkalteten Batzen herum, staunten und wurden dann vom pragmatischen Nationalparkmann wieder weggeführt.

Ich frage mich, was in Deutschland, wo in Nicht-Nachtzügen aus Sicherheitsgründen die ganze Nacht das Gefahrenfeuer die Stolperfallen ausleuchten muss, passieren würde, wenn sich morgen in der Rhön ein Vulkan aus der Erde schöbe. Die müssten das ganze Land evakuieren. Die gefühlte Bedrohung wäre einfach unerträglich.

Fragen zur Sicherheit? kolumne@taz.de MORGEN: Kirsten Fuchs über KLEIDER