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Die Intimität,die kaum auszuhalten ist

Das Grundgefühl der Verunsicherung zieht sich durch die Stationen des Theaterabends „Berlau“ am Berliner Ensemble. Beschreibung einer ungewöhnlichen Erfahrung

Mit ihr allein in der Szene: Susanne Wolff als Ruth Berlau in „Berlau“ Foto: Matthias Horn

Von Andrea Paluch

Mit „Berlau“ widmet das Berliner Ensemble einer Figur aus Brechts Frauenuniversum eine eigene Inszenierung. Ruth Berlau zum Mittelpunkt eines Abends zu machen gefiel mir. Der Teil des Titels „Live-Performance mit VR von Raum+Zeit“ sagte mir nichts. Es sollte sich aber bald herausstellen, dass genau dies der Dreh- und Angelpunkt der Theatererfahrung ist.

Das Stück wird jeweils für nur eine Zu­schaue­r:in gespielt. Das ist in vielerlei Hinsicht besonders, für ein Theater ist es eigentlich ökonomischer Kamikaze. An einem Abend sehen 20 Leute die Aufführung, die insgesamt 5 Stunden dauert. Ein Intendant, der sich so etwas leisten kann, hat alles richtig gemacht.

Der Abend beginnt zum angegebenen Timeslot im Foyer des Werkraums. Man wird am Eingang abgeholt und im dunklen Vorführungsraum einem schwarzen Engel übergeben, der einen durch den Abend lotst. Die Mitwirkenden sagen, die Szenen seien jedes Mal anders, weil sie sich auf die Energie einstellen, die die Zu­schaue­r:in­nen mitbringen. Das erfordert höchste Konzentration. Jede Szene ist mit einem Orts- und Medienwechsel verbunden. Die Virtual-Reality-Brille versetzt einen in Szenen, in denen Brecht versucht, Berlau mit verschiedenen Mitteln aus dem Theatersaal zu schmeißen, in dem gleich die Premiere des „Kaukasischen Kreidekreises“ stattfinden wird. Er befiehlt, droht, lügt, schreit, beschwichtigt. Und kommt letztlich nicht umhin, sich mit der Situation auseinanderzusetzen, dass Ruth Berlau ein Kind von ihm verloren hat und Zeit ihres Lebens nicht darüber hinweggekommen ist, während Brecht offenbar keine Mühe damit hatte.

Die Kränkung und das Zerwürfnis darüber ist das zugrunde liegende Thema des ganzen Abends. Beinah unnötig zu sagen, dass Berlau am „Kreidekreis“ mitgearbeitet hat, bei dem es um ein verstecktes Kind geht.

Die VR-Brille dient aber auch der Desorientierung zwischen den Szenen, denn man wechselt den Ort wie mit verbundenen Augen. Das Grundgefühl der Verunsicherung wird auf diese Weise unheimlich verstärkt. Der ganze Parcours des Abends ist darauf angelegt, ihn sowohl auf sinnlicher wie auf emotionaler Ebene unter höchster Anspannung zu durchlaufen.

Die VR-Szenen mit Brecht werden von analogen Szenen unterbrochen, in der man drei Mal Ruth Berlau begegnet, gespielt von drei Schauspielerinnen – jung (Amelie Willberg), mittel (Susanne Wolff), alt (Esther Hausmann), in Fleisch und Blut. Was in diesen Treffen passiert, ist unbeschreiblich. Die Nähe zu den Schauspielerinnen und der unüblich lange Blickkontakt lassen eine Intimität entstehen, die als Zuschauerin schwer auszuhalten und gleichzeitig unglaublich faszinierend ist.

Dass man als Brecht angesprochen wird und Berlau sich abwechselnd anbiedert, quält und empört, steigert das Unwohlsein. „Ich bin nicht Brecht“, will man abwehren, aber so intensive Reaktionen zu erleben, ohne sie wirklich verschuldet zu haben, ist auch genüsslich. Um nicht für Brecht gehalten zu werden und die Szene irgendwie unbeteiligt beobachten zu können, zieht sich mein Ich in einen kleinen Klumpen zurück und überlässt meine Körperhülle der Situation.

Aus der Nähe sehe ich, wie präzise ihre Gesichter Emotionen durchspielen

Als mir dann doch etwas rausrutscht, krächzt meine Stimme leise von ganz weit weg. Das soll ich gewesen sein? Ich gehöre nicht hierhin und es soll doch nie aufhören. Nachdem ich mich an diese schizophrene Haltung und das damit verbundene Unwohlsein gewöhnt habe, kann ich endlich über die Schauspielerinnen staunen. Aus nächster Nähe sehe ich, wie präzise ihre Gesichter Emotionen durchspielen, wie wohlüberlegt, originell und auch humorvoll Berlaus Sprache ist, wie wunderschön die Frauen sind. Ich bin verliebt.

Am Ende der Aufführung kann man einige Augenblicke lang den gesamten Versuchsaufbau des Abends in action betrachten, die Kammern mit den Ruths, die Zuschauer in den Kammern, die Zuschauer mit den Brillen, das Timing hinter all der Gleichzeitigkeit. Man erkennt die Entstehung der Illusionen, gleichzeitig beginnt die Anspannung zu weichen und macht Platz für Bewunderung.

Benommen kehrt man in die reale Welt des Foyers zurück.

Wie es den anderen Zuschauern erging, wird in einem Gästebuch dokumentiert, in das man seine unmittelbare erste Reaktion schreiben kann. Auch die Schauspielerinnen führen eine Art Aufführungstagebuch, in dem Reaktionen von Zu­schaue­r:in­nen festgehalten werden, als Beispiele dafür, worauf sie sich vorbereiten müssen. Denn auf das künstlich erzeugte Missbehagen reagiert offenbar je­de:r anders. Ich für meinen Teil hatte noch nie einen so intensiven, verwirrenden, außergewöhnlichen, süchtig machenden Theaterabend wie diesen.

„Berlau:: Königreich der Geister. Live-Performance mit VR“ von Raum+Zeit im Berliner Ensemble, weiter im Spielplan bis bis 2. Juli

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