piwik no script img

Voll die Arschkarte

Schieds­rich­te­r:in­nen haben ein Imageproblem. Gewalt, Beschimpfungen und fehlender Respekt sind schuld am Nachwuchsmangel. Noah Schmidt macht es trotzdem. Der 12-Jährige ist jüngster Schiedsrichteranwärter in Ostholstein

Aus Timmendorfer Strand Niklas Berger

Sie sind hochbegehrt, aber auf und neben dem Feld und auf den Tribünen nur selten beliebt. Gewalt ist im Amateurfußball ein stetes Risiko für Unparteiische, aber bei Weitem nicht der einzige Grund, warum es an Nachwuchs mangelt. Motzende Eltern in der Jugend, wütende Fans im Amateurbereich und fliegende Bierbecher im Profifußball – Schieds­rich­te­r:in­nen ziehen so manches Mal die Arschkarte.

Noah Schmidt ist zwölf Jahre alt und wohnt mit seiner Familie in Timmendorfer Strand, einer Gemeinde direkt am Ostseestrand. Er hat sich vor einem Jahr dazu entschlossen, die Ausbildung zum DFB-Schiedsrichter zu beschreiten. Nach einigen Theoriestunden und einem Wissens- und Fitnesstest ist er jetzt der jüngste Schiedsrichteranwärter in Ostholstein.

An einem strahlenden Sonntagmorgen darf Noah endlich sein erstes Spiel als Schiedsrichteranwärter leiten. Die D-Juniorinnen seines eigenen Vereins spielen gegen den Oldenburger SV, es ist Hinspiel im Pokal. Noah steht schon eine halbe Stunde früher auf dem Platz, als Schiedsrichter muss er überprüfen, dass hier alles in Ordnung ist. Angespannt wirkt er noch nicht, obwohl er heute gleich mehrfach beobachtet wird und die meisten Spielerinnen des Heimteams mit ihm in eine Klasse gehen.

Dass Schieds­rich­te­r:in­nen in der Tendenz Mangelware sind, das ist schon seit Jahren zu beobachten. Allerdings schrumpfte die Zahl der Mannschaften im Meisterschaftsspielbetrieb noch stärker, die Quote der Unparteiischen pro Team stieg daher bis 2019 in Norddeutschland sogar noch leicht an. Doch dann kam die Saison 2019/20, der Amateurfußball wurde von Corona-Kontaktbeschränkungen hart getroffen, denn während die Bundesliga nur kurz pausieren musste, stand der Spielbetrieb außerhalb der großen Stadien für Monate still. Das betraf auch die Schieds­richter:innenausbildung, ein Wechsel auf digitale Formate für die Unterrichtseinheiten konnte in vielen Verbänden erst stark verzögert eingerichtet werden. So sank die Zahl der neu ausgebildeten Schieds­rich­te­r:in­nen in Norddeutschland von 1.656 in der letzten Saison vor Corona auf 675 im ersten Pandemiejahr.

Noah hat den Lehrgang im Frühjahr 2021 begonnen. Aufmerksam auf die Möglichkeit wurde er durch Werbung von seinem Verein, dem NTSV Strand 08. Im Februar 2022 legte er dann die Prüfung zum Anwärter ab – gemeinsam mit 23 weiteren Anwärter:innen. Für ein Jahr hat er jetzt diesen Status, bevor er die offizielle DFB Prüfung ablegen darf.

Am Spielfeldrand steht heute Roland Epp, selbst Schiri und Kreisschiedsrichterobmann in Ostholstein. Im An­wär­te­r:in­nen­jahr begleiten erfahrene Kol­le­g:in­nen oder Ehemalige wie Epp den Nachwuchs als Pa­t:in­nen, um Feedback zu geben, bei Fragen zu unterstützen und Bericht über die Fähigkeiten der Spielleitenden zu erstatten.

Schieds­rich­te­r:in­nen sollen aber nicht nur im Kinder- und Jugendbereich rekrutiert werden. Auch ehemalige Fuß­bal­le­r:in­nen, die aufgrund ihres Alters nicht mehr spielen können, oder jene, die mit einer leichten Verletzung das aktive Kicken aufgegeben haben, könnten eine zweite Karriere mit Trillerpfeife und Stoppuhr beginnen, erklärt Epp. So sei es auch bei ihm selbst gewesen.

Bis auf die motzigen Kommentare vom Spielfeld­rand macht Noah sein neues Ehrenamt Spaß

Um Teilnehmende für die einmal im Jahr beginnenden Lehrgänge zu gewinnen, müsse der Verband „immer am Ball bleiben und eng mit den Vereinen zusammenarbeiten“. Finanziert werde das weitestgehend von den Vereinen selbst, explizite Mittel zur Werbung von Schieds­rich­te­r:in­nen vonseiten des DFB gebe es nicht.

„Es geht aber nicht nur um Schiedsrichtergewinnung, sondern auch um deren Erhaltung“ erklärt Epp, denn viele Nachwuchs-Unparteiische zieht es nach der Schule ins Leben – zum Studium in eine andere Stadt etwa. Die Schiedsrichterei, selten mehr als ein Hobby, fällt da leicht hintenrunter. Ein Phänomen, das auch den Amateurfußball und das Vereins­wesen im Allgemeinen betrifft.

Der zeitliche Aufwand ist hoch, bei einer Quote von nur 0,44 Schieds­rich­te­r:in­nen pro Fußballteam in Deutschland. Mindestens 15 Spiele sollten pro Jahr geleitet werden. Oft sind es mehr, teils sogar mehrere Spiele an einem Wochenende. Zusätzlich müssen auch nach der DFB-Schiedsrichter:innenprüfung noch Lehrgänge besucht und jährlich ein schriftlicher und physischer Test absolviert werden. Das spiegelt sich vor allem in den unteren Ligen nicht in der finanziellen Entschädigung wider. Die beschränkt sich auf die Fahrtkosten, ein nach Spielklassen gestaffeltes Handgeld (im Jugend- und Amateurbereich sind es zwischen 5 und 30 Euro) und freien Eintritt in Stadien der DFB-Vereine.

Roland Epp sieht Werbung als ein wichtiges Mittel gegen den chronischen Schiri-Mangel. Mit dem Podcast „Buchtenkicker“ will der Kreisfußballverband Ostholstein die Attraktivität der lokalen Vereine stärken. Auch auf Instagram und Facebook wird gezielt für die An­wär­te­r:in­nen­lehr­gän­ge geworben. „Wir müssen junge Menschen dafür begeistern, damit sie am Ball bleiben“, so Epp. Dabei helfen auch Vorbilder aus den Bundesligen. Wie zum Beispiel Tobias Stieler, Schiedsrichter in der Herren-Bundesliga und der Champions League. Er unterstützt das „Schiedsrichterpraktikum“, das es in Schleswig-Holstein seit 2017 gibt: Das Programm bietet Interessierten die Möglichkeit, Schieds­rich­te­r:in­nen bei der Arbeit zuschauen und bei den Besprechungen dabei zu sein. So hofft der Verband, das Interesse fürs Ehrenamt bei noch mehr Menschen zu wecken.

Julia Niko ist für die Pa­t:in­nen in Ostholstein verantwortlich und bewertet gemeinsam mit ihnen die Eignung der jungen Schiris für das Pfeifen in höheren Spielklassen. Sie ist selbst Schiedsrichterin im Amateurfußball gewesen. Dass es in der Herren-Bundesliga nach dem Ausscheiden von Bibiana Steinhaus keine Schiedsrichterin mehr gibt, findet sie schade, es würden sich generell nur wenige Frauen fürs Ehrenamt interessieren. Im Kreisfußballverband Ostholstein sind es von 163 Schieds­rich­te­r:in­nen gerade einmal 5.

Allein in Deutschland würden nur 7 Prozent der Schieds­rich­te­r:in­nen in der Bezirksliga oder höher pfeifen, erzählt Carsten Byernetzki, stellvertretender Geschäftsführer des Hamburger Fußball-Verbands e. V., der selbst 33 Spiele in der Zweiten Bundesliga geleitet hat. Je nach Bundesland ist das die siebt- oder achthöchste Spielklasse. Das bedeutet im Umkehrschluss aber eben auch, dass mehr als 9 von 10 Schieds­rich­te­r:in­nen ausschließlich im Amateurbereich arbeiten. Es gehört also schon einiges dazu, in diesem Kontext aufzusteigen.

Mit zwölf Jahren in die Schiedsrichterei einzusteigen erhöhe aber die Chancen, in ­höhere Liegen zu kommen. „Die Erfahrung, die man als ­zwölfjähriger Schiedsrichter sammelt, sind für einen, der drei, vier Jahre später anfängt, nicht aufzuholen“, meint Roland Epp. Das Feedback, das die ­Pa­t:in­nen dabei beisteuern, ist für die persönliche Weiterentwicklung wichtig. Die Bedeutung des ­Pa­t:in­nen­sys­tems ist auch vom DFB anerkannt und seit 2018 auf Wunsch einiger Landesverbände deutschlandweit etabliert.

Das Spiel zwischen den D-Juniorinnen des NTSV Strand 08 und des Oldenburger SV endet 7:0 für das Heimteam. Karten musste Noah keine verteilen, dafür aber ein Tor nach einem Schiedsrichterball zurücknehmen. „Sehr gut gemacht“, meint Epp dazu, „das war keine einfache Situation“. Ein wenig Arbeit an der Körpersprache und klarere Handzeichen sind nur Abzüge in der B-Note, die der Pate heute zu beanstanden hat.

Auch Noah ist zufrieden mit seiner Leistung, „nur die Eltern haben ein bisschen genervt“. Bis auf die motzigen Kommentare vom Spielfeldrand macht ihm sein neues Ehrenamt Spaß, er kann sich gut vorstellen, noch länger als Schiedsrichter zu pfeifen. „Am liebsten in der Premier League“ möchte er einmal Referee sein, die englische Profiliga findet er „besser als die Bundesliga“. Bis der Traum eines Tages Realität werden könnte, liegt noch ein weiter Weg vor dem Zwölfjährigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen