: „Hier wird jeder Gedenkort einzeln missachtet“
Gedenkstättenleiter und -aktivisten diskutieren auf Kampnagel über das „Lernziel Erinnerung“
Interview Petra Schellen
taz: Herr Kopitzsch, hat Hamburg 77 Jahre nach Kriegsende Erinnern noch immer nicht gelernt?
Wolfgang Kopitzsch: Nein.
Was fehlt?
Die kontinuierliche Arbeit an dem Thema. Es hat immer wieder Phasen gegeben, in denen es einen hohen, dann wieder einen geringeren Stellenwert hatte. In den 1980er-Jahren wurde viel gefördert und geforscht, etwa über Justiz und Polizei im NS-Staat. Das ist später nicht so fortgesetzt worden. Auch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme entstand ja einerseits, weil man die Strafanstalt auch aus anderen Gründen dort heraushaben wollte, andererseits auf Druck der Häftlingsorganisationen. Erst 2005 wurde dort eine würdige Erinnerungsstätte eröffnet – 60 Jahre nach Kriegsende.
Dazu kommt aktuell die gescheiterte Privatisierung des Gedenkens im Stadthaus, der einstigen Gestapo-Zentrale, und am Deportationsort Hannoverscher Bahnhof ...
Ja, da hat der Staat das Gedenken aus Kostengründen Investoren überlassen. Der im Stadthaus hat die Ausstellungsfläche kleingerechnet, und der in der Hafencity wollte einen NS-belasteten Mieter mit ins Gebäude des Dokumentationszentrums nehmen. Jetzt musste man zurückrudern.
Haben Sie den Eindruck, dass die Stadt aus den Fehlern lernt?
Nein. Der nächste Gedenkort, der scheitern könnte, ist das Lagerhaus am Dessauer Ufer, wo Zwangsarbeiter eingesperrt waren. Auch die an ermordete Kinder erinnernde Gedenkstätte Bullenhuser Damm in einem Schulgebäude wird durch Bauten in unmittelbarer Nähe ihre Wirkung verlieren. Die Gedenkstätte selbst ist nicht gefährdet, aber das Gebäude, das als Solitär den Zweiten Weltkrieg überstand, soll von höheren Häusern umgeben, zugebaut und optisch erdrückt werden. Hier in Hamburg wird fast jeder Gedenkort einzeln vom Senat be- oder eben leider auch missachtet, – je nachdem, ob er in lukrativer Lage oder einem attraktiven, gut verkäuflichen Gebäude liegt. Das ist unwürdig.
Kulturforum: Was Hamburg im Umgang mit NS-Gedenkstätten verändern muss. Diskussion: 10. 5., 19 Uhr, Kampnagel Hamburg
Was schlagen Sie vor?
Hamburg braucht einen zentralen Gedenkort. Wir haben eine überschaubare Ausstellung im Hamburg-Museum, die Mini-Ausstellung im Stadthaus sowie die Gedenkstätten Fuhlsbüttel und Neuengamme. Wir brauchen aber zusätzlich – wie etwa in München – ein zentral gelegenes Dokumentationszentrum, das den Gesamtkomplex des Nationalsozialismus abbildet. Ich muss doch wissen, wie dieses System entstehen konnte. Ich muss wissen, dass jede Institution und fast jede gesellschaftliche Gruppe den NS-Staat mit getragen hat. Um das zu veranschaulichen, muss ich die Vernetzung dieser Institutionen zeigen.
Welche wären das – außer den erwähnten?
Zum Beispiel das Hanseatische Oberlandesgericht – das damalige Sondergericht, das zig Prozesse führte. Gleich dahinter liegt das Untersuchungsgefängnis – bis 1944 zentrale Hinrichtungsstätte in Norddeutschland für den Wehrkreis X. Nicht weit davon das einstige Gebäude der Staatsanwaltschaft, die ebenfalls an der Verfolgung beteiligt war. Diese Orte haben teils Kunstwerke, teils kleine Tafeln, aber nirgends wird zentral auf ihre Zusammenarbeit mit Polizei, Kriminalpolizei und Gestapo im Stadthaus verwiesen.
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