Friede, Freude, Europakuchen: Diese eine Liebe

Stimme meiner Generation: In der Schule sollten wir Europa lieben lernen. Klappte aber nicht so ganz. Jetzt fahre ich nach Brüssel, um diese Liebe zu suchen.

Schröder und ein Euro-Starterkit 2001 – war das schon der Höhepunkt der EU? Foto: picture alliance / dpa

Von RUTH FUENTES

taz FUTURZWEI, 20.04.22 | Einmal im Gebäude der europäischen Kommission drin, kommt man nicht mehr raus. Also schon, aber dann wird man nicht wieder reingelassen, meint der Türsteher äh Security-Guy. Die Gänge im Berlaymont-Gebäude sind auf allen Stockwerken ähnlich verwinkelt, lang und fensterlos, die Decken tief, die Wände in den Foyers holzvertäfelt. Ich will mir nur kurz einen Kaffee holen und verlaufe mich. Ich lande schließlich auf der einzigen Terrasse und der einzigen Möglichkeit, frische Luft zu atmen an diesem konferenzbeladenen Tag. Also schnorre ich mir von einem europäischen Genossen eine Zigarette und schaue an der verglast-metallenen Fassade des Berlaymont-Gebäudes hoch. Hier entspringt also tagtäglich der europäische Gedanke. Freiheit und Demokratie und so.

Heute wollen sie uns – einer Gruppe junger Journalist:innen aus Deutschland – zeigen, wie geil dieser Gedanke ist. Wie präsent. Und ich will ihn auch endlich haben, diesen großen Gedanken, denke ich und atme Brüsseler Luft.

Ruth Fuentes und Aron Boks schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Fuentes, 28, ist Redakteurin des taz lab 2023

Sie wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und war bis Januar 2023 taz Panter Volontärin.

Boks, 26, wird gefördert von der taz Panter Stiftung.

Er wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

„In welchen Situationen hat die EU für Ihren Beruf bisher eine Rolle gespielt?“ hatte eine Kommissions-Mitarbeiterin uns bei der Begrüßung gefragt.

„Keine“ war die häufigste Antwort. Ein paar erwähnen Artikel zu „EU-Taxonomie als Aufschiebung des Energieproblems“, „ertrinkende Geflüchtete im Mittelmeer“, „Dublin-Verfahren“... Das hatte sie dann anscheinend auch nicht hören wollen. Nicht jetzt, wo gerade beschlossen wurde, dass erst mal alle ukrainische Geflüchtete ohne große Bürokratie aufgenommen werden, in dem EU-Land ihrer Wahl. Dass sie dort direkt arbeiten dürfen, Sozialleistungen beziehen. Ich bekomme eine Push-Nachricht: „Fast 100 Migranten bei Bootsunglück ertrunken“.

Der europäischen Idee ganz nahe

„Europäische Werte!“, wispert es durch die geschlossenen Flure der Kommission und im flughafenähnlichen Gebäude des Parlaments auf der anderen Straßenseite. Die europäische Idee umhüllt Brüssel, hier bin ich ihr ganz nahe. Jetzt muss ich sie nur noch einfangen, denke ich. So wie damals, kurz vor der Europawahl 2004, als ich auf dem Marktplatz meiner Kleinstadt ein Comic-Heft in die Hand gedrückt bekam. Es ging um verfeindete Königreiche, die lernen, dass es viel besser für sie alle ist, wenn sie sich zusammenschließen und in Frieden leben und handeln …

Warum Frontex bewaffnet sei? Weil jeder Grenzschutz Waffen trage. Wie sie dazu stehe, dass Polen eine Mauer an der belarussischen Grenze baue? Die stellvertretende Leiterin des „Kabinetts für Förderung des europäischen Lebensstils“ (Schwerpunkte: Migration, Gleichheit und Diversität) antwortet ausweichend. Sie muss pünktlich wieder gehen. Viel zu tun.

In meinem Comic-Heft damals stand nichts darüber, was zu tun sei, wenn ein benachbartes Königreich plötzlich angegriffen wird. „Die Situation ist sehr ernst“, erklärt ein Sprecher des Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik. Er wirkt gestresst. Weitere Pläne mit Sanktionen lägen auf dem Tisch, meint er. Sowie die berechtigte Angst vor einem Angriff auf die Baltischen Staaten. Es müssten alle möglichen Szenarien bedacht werden. Auch, dass verbündete Königreiche eventuell gegen ein größeres verfeindetes Königreich kämpfen müssen?

Putin gehe es gar nicht um die NATO-Osterweiterung, sagen jetzt immer mehr Expert:innen. Die europäischen Werte seien es, die ihm im Weg stünden. Die durch einen möglichen Beitritt der Ukraine in die EU noch näher rücken würden, bis an die Grenzen Russlands. Schon wieder die europäischen Werte – sogar Putin scheint sie gefunden zu haben. Und ich?

Meine letzte Hoffnung liegt in Brüssel

Ich, die ich mir einbilde, das Ergebnis eines europäischen Gedankens zu sein: Meine spanische Mutter lernte meinen deutschen Vater kennen, als dieser über sein Studium ein Jahr in Valencia verbrachte. Drei Jahre später, 1986, wurde Spanien dann in die EU aufgenommen. „Für Länder wie Spanien ein wichtiger Schritt hin zur Demokratie und weg von der Diktatur …“, so hat es mir vorhin ein EU-Kommissionsmitarbeiter erklärt. Und ich musste daran denken, dass erst vergangenes Jahr die letzte Statue des Diktators Franco in der spanischen Enklave Melilla abgebaut wurde. Für meine Mutter hieß der EU-Beitritt damals erst mal Interrail, später bedeutete es Besuche bei der Familie in Spanien ohne Grenzkontrollen. Freie Fahrt durch Frankreich. Für mich heißt das, dass wir in der zweiten Klasse in Mathe plötzlich mit Euro rechnen.

War der europäische Gedanke etwa nur eine kurze Begeisterung, die wir in der Schule der Nullerjahre spüren sollten? Damals hielt ich ein Referat darüber, ob die Türkei in die EU aufgenommen werden sollte. Ich war fest überzeugt davon, das würde eh bald passieren. Muss es ja, für mehr Freiheit, Demokratie, Frieden. Diese Worte schwirren in meinem Kopf, das ist Europa, lerne ich in der Schule.

Doch dann zeigt der griechische Finanzminister den Deutschen den Mittelfinger. Es kommen Pegida, ertrunkene Geflüchtete, Brexit und eine vermeintliche Alternative für Deutschland. Die EU finanziert mir mein Auslandssemester mit (das heißt: viele Liter an Sangría und Vermú). Wenig später lassen sich die Grenzen doch wieder schließen, um uns vor einem Virus zu schützen. An den östlichen Außengrenzen hört man seit Kurzem Explosionen. Meine EU-Comic-Hefte liegen verstaubt irgendwo ganz hinten im Regal.

Man wollte uns beibringen, Europa zu lieben. Doch habe ich das jemals getan? Meine letzte Hoffnung liegt in Brüssel. Als ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gebäude der europäischen Kommission betrete, spüre ich Bürokratie und Decken wie bei Kafka. Die Abgeordneten, die wir treffen, sind total motiviert. Die Ergebnisse, die sie uns präsentieren, oft kleinteilig und technisch. Langwierige Prozesse und eine erschwerte Kommunikation, denn Debatten sind schwierig zu führen, wenn 24 Sprachen im Spiel sind. Wenn mehr als die Hälfte des Saals bei einem Witz mit Verzögerung lacht.

Manchmal hat man kurz das Gefühl, Europa greifen zu können

Derweil weht die ultramarinblaue Flagge mit den zwölf Sternen weiter im Wind – zwölf: ein Symbol der Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit.

„Wir müssen die Bedeutung des europäischen Gedankens bis in die Lokalpolitik hineintragen“, hatte ein Kandidat der paneuropäischen Volt-Partei mir in einem Interview erklärt. Voller Begeisterung für die Möglichkeiten einer gut funktionierenden EU. Doch: Die Büros der Briten stehen leer, 129 der 705 Abgeordneten sind Rechtspopulist:innen oder EU-Skeptiker:innen.

Der europäische Gedanke – ein Phantom, dem ich noch hinterherrenne? In einem geschwungenen, vierzehnstöckigen Gebäude, das in den 60ern vermutlich noch unglaublich futuristisch wirkte und heute aussieht wie etwas, das in den Nullern noch modern schien. Wie der ganze Gedanke selbst? Zusammen mit einer tiefsitzenden, eingebläuten Gewissheit, dass wir die Guten sind? Wirtschaftlich, moralisch und kulturell?

Man kommt dem europäischen Gedanken schon sehr nahe hier in Brüssel, dieser Steuerungszentrale vieler kleiner Projekte, die Frieden, Naturschutz und Demokratie versprechen. Manchmal hat man kurz das Gefühl, Europa greifen zu können, wirklich in Europa zu sein.

Eigentlich ein sehr schönes Gefühl, denke ich, als wir über die offene Grenze zurück nach Deutschland fahren. Aber da ist es schon längst wieder weg.

Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.

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