: Der Lohn der harten Arbeit
Die Welt der Bauern ohne jede Verkitschung: „Wilderer“ von Reinhard Kaiser-Mühlecker
Reinhard Kaiser-Mühlecker: „Wilderer“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022, 352 Seiten, 24 Euro
Von Fokke Joel
Jakob, der Protagonist von Reinhard Kaiser-Mühlecker neuem Roman „Wilderer“, kämpft mit seinem Leben. Es ist ein Leben in einer bäuerlichen Welt, die sich nur äußerlich den rasanten Veränderungen der Moderne angepasst hat. Zwar pflügt er mit seinem 150-PS-Boliden die Felder und kontrolliert am Bildschirm die automatische Fütterung von Hühnern und Schweinen, aber seine Gefühle sind wie aus der Zeit gefallen, hängen auf vormoderne Weise an Familie, Land und Leuten.
Zwischen einem Leben auf dem Hof seiner Eltern und dem in der Stadt fühlt er sich hin- und hergerissen. In „Fremde Seele, dunkler Wald“, dem vorletzten Roman des 1982 im österreichischen Kirchdorf an der Krems geborenen Autors, hatte Jakob einen Versuch unternommen, sich vom Hof zu lösen, war mit seiner Freundin Nina zusammengezogen und wollte mit ihr eine Familie gründen. Doch das Kind, das sie bekommt, ist nicht von ihm, und die Beziehung zerbricht. In „Wilderer“ lebt er wieder auf dem elterlichen Hof, der sich unter einer riesigen Autobahnbrücke befindet, die wie ein drohendes Schwert der modernen Welt über allem schwebt. Wie eine Naturgewalt erscheint das ewigen Dröhnen der Autos und Lastwagen, dem Jakob bei der Arbeit mit einem Gehörschutz mit eingebauten Radio zu entgehen versucht.
In „Fremde Seele, dunkler Wald“, während der Zeit mit Nina, war sein Großvater gestorben. Ansonsten hat sich auf dem Hof nicht viel verändert. Jakobs Vater verschwindet immer noch für Wochen, ohne dass jemand wüsste, wohin. Um das Leben seiner Familie und seiner „Projekte“ zu finanzieren, hat er weiteres Land verkauft. Und Jakob macht das, was er schon seit seiner frühesten Jugend gemacht hat: von morgens bis abends zu arbeiten. Ohne ihn gäbe es die Landwirtschaft nicht mehr.
Immer wieder denkt Jakob an Selbstmord, spielt mit dem alten Revolver des Großvaters, den er als Jugendlicher auf dem Dachboden gefunden hatte, russisches Roulette. Oder träumt davon, in den Krieg zu ziehen. Völlig erschöpft von der harten Arbeit, schüttet er abends ein Bier nach dem anderen in sich hinein. Auf Tinder, dessen Funktion er nicht wirklich versteht, sieht er sich die Frauenporträts an. Doch obwohl es immer wieder Frauen gibt, die sich für ihn interessieren, geht er nicht darauf ein.
„Wilderer“ lebt, wie schon die zuvor erschienen Romane von Reinhard Kaiser-Mühlecker, nicht vom Handlungsablauf. Es passiert nicht viel, und wenn etwas passiert, dann empfindet es Jakob als naturgegeben, wie der Wechsel der Jahreszeiten. Die Schilderung seiner täglicher Arbeit erzeugt im Leser eine eigentümlich Ruhe. Gleichzeitig staut sich hinter der Fassade von Harmonie, Arbeit und Familie Gewalt an. Sie tritt an nur wenigen Stellen zutage, die aber dadurch umso verstörender wirken.
Die Zwänge und Ambivalenzen, unter denen Jakob leidet, die ihm das Gefühl geben, zwischen den Stühlen zu sitzen, kennt jeder. Vielleicht lässt sich damit auch der Erfolg der Romane Kaiser-Mühleckers erklären, der mit „Fremde Seele, dunkler Wald“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Jakob erlebt diese Zwänge und Ambivalenzen nur ungleich härter als die meisten. Mit seinem neuen Roman gelingt es Reinhard Kaiser-Mühlecker ein weiteres Mal, dem Leser die Welt der Bauern nahezubringen, ohne Verklärung und ohne Klischees. „Wilderer“ ist ein düsteres Buch, aber auch ein Buch der Hoffnung. Ein gelungener Roman, der einen noch lange beschäftigt.
Als Katja auftaucht, eine mit ihrem Leben hadernde Künstlerin, und sich in Jakob verliebt, beginnt sich vieles zu ändern. Sie ist hartnäckig, überzeugt den misstrauischen Mann von sich. Es stellt sich heraus, dass diese „Zeitdiebin“, wie er sie einmal am Anfang für sich nennt, genauso hart arbeiten kann wie er. Sie bringt Jakob dazu, was sowieso schon klar ist, wozu er sich aber nicht durchringen konnte: den Hof auf biologische Landwirtschaft umzustellen. Doch obwohl er sie liebt, wird er sein Misstrauen nicht los. Und denkt, vielleicht will auch sie nur in seinem Leben „wildern“.
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