: „Sicher ist nur, dass du stirbst“
IDEEN Im Dezember 2010 sprach Mitscherlich mit der taz unter anderem über die Religion und den Tod
taz: Frau Mitscherlich, Menschen können Widersprüche nicht gut aushalten.
Margarete Mitscherlich: Vor allem wenn es um Gefühlsbeziehungen geht. Aber Angst hat immer sehr viel mit Ambivalenz zu tun, die nicht sein darf. Wenn man zum Beispiel innerhalb einer liebenden Gemeinschaft, und die Familie soll ja eine liebende Gemeinschaft sein, doch eine gewisse Enge spürt, dann muss man endlich was erleben. Und dann macht man beispielsweise Krieg – sehr vereinfacht gesagt. Dem Feind gegenüber darf man ja endlich Aggressionen haben. Die meisten Menschen lösen Konflikte, die sie gerade in engen Beziehungen haben, dadurch, dass sie draußen einen Feind haben, den sie von Herzen hassen können und dem sie Böses wünschen können.
Funktioniert die Psychoanalyse eigentlich im Islam?
Ich glaube, traditioneller Islam und Psychoanalyse, das ist wie Feuer und Wasser. Soviel ich weiß – es macht vielleicht der ein oder andere eine Analyse. Aber eine Psychoanalyse, wo Sie alles infrage stellen, Ihre Motive untersuchen . das ist ohne Aufklärung nicht möglich.
Es schließt sich also aus?
Ja. Das geht nicht. Wenn man gläubig im Sinne des traditionellen Islam ist, der seine Kinder entsprechend erzieht. Und nun nicht unbedingt dazu, ihren Glauben infrage zu stellen. Also, ich kann nicht zurückfallen vor die Aufklärung. Und vor den Wunsch nach Gleichberechtigung. Die Aufklärung führte ja auch dazu, dass man eigentlich nicht mehr in diesem kindlichen Sinne religiös sein konnte. Es sind aber ja auch nicht alle Muslime streng gläubig, es gibt ja auch moderne Leute, die weiter sind als 620 nach Christus.
Sie preisen die Aufklärung – die Menschen scheinen aber lieber an etwas glauben zu wollen.
Ja, das Bedürfnis nach Religion scheint etwas zu sein, was immer wiederkommt. Das soll man ihnen auch lassen. Und wenn jemand religiös ist und an das Oben und Unten glaubt, bitte! Zur Aufklärung gehört auch die Toleranz! Das andere ist ja, dass wir irgendwann sterben, ob wir wollen oder nicht. Aber wir Menschen sind die einzigen Lebewesen, die wissen, dass sie sterben. Und Religion ist ja nur Fantasie – mit Sicherheit weiß niemand, was nach seinem Tod geschieht.
Nein …
Es ist natürlich viel schöner, jung, gesund und reich zu sein als alt, krank und arm, oder? Es gibt nur eine Sicherheit, wenn du geboren wirst: dass du irgendwann mal stirbst. Das ist die einzige Sicherheit, die wir haben. In Ihrem Alter hatte ich auch noch keine Angst. Aber wenn das morgen passieren könnte, dann fangen Sie an, darüber nachzudenken. Ob Sie wollen oder nicht. Und an so einem Punkt müssen Sie leider sagen, dass Sie Ihr Leben lang für die Aufklärung gesprochen haben – und jetzt nicht einfach anfangen können, Ihre Fantasien für real zu nehmen und zu glauben, dass der liebe Gott mit Glück und besonderer Freundlichkeit an der Himmelstür auf Sie wartet.
INTERVIEW: J. PETERSEN, M. REICHERT
■ Ursprünglich erschienen am 11. 12. 2010. In ganzer Länge nachzulesen unter www.taz.de/!62823