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„Ich glaube nicht so sehr an Fakten“

Das Buch „Wagnis des Lebens“ folgt Spuren der NS-Zeit in Biografien

Helga Grubitzsch

ist pensionierte Professorin für französische und allgemeine Literaturwissenschaft. Seit 2001 führt sie eine Praxis für Logotherapie und Existenzanalytische Beratung. Außerdem bietet sie Seminare und Beratungen für Biografisches und Kreatives Schreiben an.

Interview Jan-Paul Koopmann

taz: Frau Grubitzsch, Sie stellen heute ein Buch vor, das in einem Kurs für biografisches Schreiben entstanden ist. Was bringen Sie den Autorinnen dort bei – abgesehen vom Aufschreiben, was jemandem eben so alles passiert ist?

Helga Grubitzsch: Wenn ich das wüsste … Es liegt an den Autorinnen selbst, was sie dort lernen und was sie davon umsetzen. Ich habe nicht vor, jemandem zu sagen, wie man schreibt. Ich ermutige die Teilnehmerinnen, Zugang zu ihren eigenen kreativen Quellen zu finden und die dann authentisch zum Ausdruck zu bringen. Was gar nicht so leicht ist.

Warum nicht?

Weil es viele Vorurteile und Normvorstellungen darüber gibt, wie man schreiben sollte. Und weil manche Teilnehmerinnen anfangen, sich mit ihren Ko-Autorinnen zu vergleichen – oder mit berühmten Schriftstellern. Ich versuche eher das hervorzulocken, was die Autorinnen schon können und sie zu ermutigen, es dann auch umzusetzen.

Alle Texte haben Bezüge zum Nationalsozialismus. War das bereits Thema des Kurses?

Nein, die Teilnehmerinnen wollte biografisch schreiben und das haben sie getan. Dann haben wir gemeinsam herausgearbeitet, dass der Nationalsozialismus immer eine wichtige Rolle spielt, wenn man über Eltern oder Großeltern schreibt. Das geht wahrscheinlich gar nicht anders in Deutschland.

Es ist ein vielstimmiges und manchmal widersprüchliches Buch. Sehen Sie trotzdem Gemeinsamkeiten zwischen den Texten?

Es gibt ein latentes Schuldbewusstsein bei allen, unterschiedlich ausgeprägt und mit unterschiedlichen Folgen für das eigene Leben – aber eine doch gemeinsame Entscheidung, sich nicht davor zu drücken, die Traumata der Eltern und Großeltern zu verarbeiten. Das sind sehr ehrliche und authentische Texte geworden, die sich der Vergangenheit stellen – und der Frage, was das in den Autorinnen auslöst.

Im Vorwort schreiben Sie, dass biografische Texte neben Erfahrungen auch Vorstellungen und Gefühlen Platz einräumen. Was heißt das in der Praxis?

Es kann schwierig sein, sich den eigenen Gefühlen zu stellen. Gerade wenn Eltern oder Großeltern selbst nichts erzählt haben und man nur an eigenen Erinnerungen ansetzen kann. Bei meiner Arbeit geht es darum, auch in sich nachzuspüren: Was macht es mit mir, wenn ich mir vergegenwärtige, wie es damals war? Wo sind die Lücken in den Erzählungen der Eltern? Wieso weiß ich eigentlich nichts über die Zeit zwischen 1933 und 45? Diese Fragen führen durch Neugier zu Kreativität.

In den Geschichts- oder Politikwissenschaften lernt man hingegen, Gefühlen gegenüber misstrauisch zu werden. Haben Sie keine Angst vor gefühltem Wissen?

Buchvorstellung: Mo., 25. 4., Stadtbibliothek Bremen, Wall-Saal, 19 Uhr

Buch: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Eine biografisches Suche nach Spuren der NS-Zeit. Kellner Verlag, 240 Seiten, 16,90 Euro

Ich glaube ja nicht so sehr an Fakten. Ich glaube, dass sie immer – ob bewusst oder unbewusst – von Gefühlen begleitet werden. Und biografisches Schreiben geht gar nicht, ohne sich damit auseinanderzusetzen. Ich habe das an mir selbst erfahren, als ich biografisch über französische Revolutionärinnen geschrieben habe. Da passiert etwas: Ich komme der Person, über die ich schreibe, sehr nahe. Anfangs habe ich mich einfach nur identifiziert: Ich fand die Frau toll. Und dann gilt es eben zu gucken: Was löst das bei mir aus? Und wo führt es mich hin?

Wohin denn?

In meinem Beispiel in Pariser Archive, zu Fakten, zu zeitgenössischen Vorstellungen, aber auch zu Widersprüchen und Lügen: „Hallo, was steht denn da in Ihrer Autobiografie? Was sagt die Presse dazu?“ Und natürlich gilt es dann auch, wieder auf Distanz zu gehen und nicht nur Gefühle herauszuschreiben und sie für Fakten zu halten.

Mit Gefühlen zu arbeiten wäre dann sogar ein Mittel gegen Fake News?

Das ist gerade beim Nationalsozialismus extrem wichtig. Kinder und Enkel haben gelitten unter dem Schweigen von Eltern und Großeltern. Man kann das entweder verdrängen, sich anpassen oder in den Widerstand gehen – aber wenn ich mir wirklich bewusst ansehen will, was da los ist, muss ich mich mit meinen Gefühlen auseinandersetzen. Und mit dem, was ich vielleicht nicht fühlen will. Beim Journalismus ist es übrigens ganz ähnlich. Wenn ich mir nicht bewusst mache, was ich auslasse, werde ich Fake News kreieren.

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