: Die verschworene Sprache der Engel
Was kann es an Intensität mit Sex und Gewalt aufnehmen? Die Kunst? Der Liebestod? Die Wiederbegegnung mit Arthur Penns „Bonnie und Clyde“ im Kino erinnert nicht nur an die Romantisierung individuellen Desperadotums in den 60ern, sondern auch an eine vergessene Dramaturgie der Blicke
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Bonnie und Clyde haben, so scheint es, eine Verschwörung nicht nur innerhalb des Films, der ihre Namen als Titel trägt. In den entscheidenden Szenen wirkt es so, als hätten sie Liebe und Liebestod noch auf einer anderen Wirklichkeitsebene geplant und durchgespielt, in direktem Kontakt mit Gott und den Zuschauern nämlich. Dann scheinen sie sich von den historischen Kulissen aus der Zeit der Depression, der Klapperautos und Hinterwäldlerdörfer abzuwenden und einen Kontakt zu einer höheren Realität aufzunehmen: Sie blicken durch den Spiegel, und da sind wir Zuschauer. Dass die Gewalt, das Tempo, der Rebellenhumor nicht alles war an der Filmlegende „Bonnie und Clyde“, hat man noch vage in Erinnerung. Aber was denn da noch war, gibt die Wiederaufführung Gelegenheit zu erforschen.
Blicke, vor allem Blicke. Die werfen sich Bonnie und Clyde hin und wieder mit einer plötzlichen Wachheit zu, die auf diesen anderen ontologischen Status zu verweisen scheint. Eine blitzschnelle Verständigung ohne Worte, als sprächen sie die berühmte Sprache der Engel, über die man im 18. Jahrhundert debattierte: reine Kommunikation ohne Medium. Wir Zuschauer sind an dieser Intensität beteiligt: Schließlich leben wir auch auf dieser im Verhältnis zur Filmrealität höheren Ebene. So entsteht ein umgekehrter V-Effekt, der uns nicht antiillusionistisch über den Unterschied aufklärt, dass Schauspieler nur Schauspieler sind und wir nur Zuschauer, sondern eher poptheoretisch die Gemeinsamkeit stärkt, dass wir und sie gemeinsam große Wünsche produzieren.
Faye Dunaway als Bonnie badet in dem Narzissmus einer Prinzessin, die nur noch erweckt werden muss. Ihr Freund ist der Badezimmerspiegel. Als Warren Beatty (Clyde) zufällig vor der Tür das Auto ihrer Mutter klauen will, fällt sie, von seinen Geräuschen bei der Selbstliebe gestört, in Nanosekunden den Entschluss, dass mit diesem Geräusch die Welt bei ihr angeklopft hat. Dieser Mann da unten, überhaupt kein Zweifel, liefert ihr das Gegenüber, das sie wirklich braucht.
Ja, dieser Mann ist der Größte, aber er ist impotent. Stattdessen hat er viel Zärtlichkeit für seine Knarre. Auch das versteht sie sofort und ist zärtlich zur Pistole. Diese Knarre übernimmt jetzt die Regie. Sie ist wie ein Orakel, das den Weg anzeigt. Fast zufällig geht sie los und tötet wie von alleine irgendwelche übereifrigen Ordnungshüter. Die Figuren holpern jetzt nur noch deren Entscheidungen hinterher. Bevor eine Situation sich zu erkennen gegeben hat, hat sie die Tatsachen schon wieder vollendet. Sie ist ebenso schnell und engelhaft rasant wie Bonnies Liebe.
Wieder versuchen sie miteinander zu schlafen. Danach ein dankbarer Blick von Bonnie: Danke, dass es mehr als Sex ist, das uns aneinander bindet. Dieses Mehr ist nicht das verlogene Mehr des Verzichts auf Körperlichkeit im Namen einer „reinen“ Liebe, sondern es ist Mehr im unmittelbaren Wettbewerb von Sex und dessen Intensitätsgewinn. Dieses Mehr ist die absolute Geschwindigkeit der von keinerlei Medium, auch dem Körper nicht aufgehaltenen Engelskommunikation. Man könnte auch behaupten, dieser maximalen Geschwindigkeit entspricht die Geschwindigkeit der Kugel. Das, was besser ist als Sex, ist die Waffengewalt.
Doch darauf läuft es auch nicht hinaus. Die Kugel ist nur die nahe liegende und ungenügende Entsprechung, die die beiden in der Wirklichkeit finden. Bonnie schreibt, als die beiden schon als Gangster berühmt sind, ein Gedicht, das sie an die Presse schickt. Sie sucht auch andere Äquivalente für die Lichtgeschwindigkeit ihrer Blicke. Die Kunst. Die Geschichte. Nur vermag es die Kunst mit Sex und Gewalt nicht aufzunehmen. Daher zieht es intensitätsbesessene Kunst so gern zum Gesamtkunstwerk. Mehr als Kunst. Traditionell zieht es das Gesamtkunstwerk wiederum zum Liebestod, das Regime der Knarre hilft dabei.
Als dann sich alle möglichen Mieslinge – an deren Spitze ein von Bonnie sexuell gedemütigter anderer Impotenter – zu ihrer Exekution verabreden, dem von Filmhistorikern immer wieder beschworenen „ballet of blood“, einer neuen zugleich realistischeren wie fetischistischen Darstellung von Schusswaffengewalt, wechseln sie in der Sekunde ihres Todes wieder diese Blicke. Nun ist es, als ob sie selbst die Drahtzieher dieser feigen Hinrichtung gewesen wären. Aber auch diese überlegenen Desperados sind sie nicht. Sie sind ahnungslose Landeier, die in dieser neuen OmU-Fassung überaus markanten Südstaatenakzent reden. Sie sind zuweilen treudoof und schleppen Clydes rührend knalltütigen Knacki-Bruder und dessen hysterische Kuh von einer Ehefrau mit durch. Der stete Wechsel einer von zeitgenössischer Hillbilly-Musik unterlegten Country-Groteske zur fast ehrfürchtigen Verklärung von Gewalt und Liebestod gibt dem Film eine entschlossen irre, wenn auch fragile Balance. Natürlich haben „Bonnie und Clyde“ und seine Rezeption weit mehr mit der allgemeinen Romantisierung individuellen Desperadotums zu revolutionärer Gewalt in den 60ern und 70ern zu tun als ein paar Texte des frühen Rudi Dutschke. Allein, der Film ist wesentlich dichter, als es die verbreitete Lektüre als Rebellen-Feelgood-Movie nahe legt.
Es ist die Story eines Impotenten und einer unreifen Provinzdichterin, die sich den ihnen verwehrten Zugang zur Welt und Intensität erzwingen. Erfolgreich. Aber nicht jede erfolgreiche Selbstermächtigung ist nur segensreich. Aber schön sind sie. Um diese Tragik geht es. Die grell metaphysischen Wachheitsblicke, die sie sich zuschleudern, erreichen ihr Publikum nicht nur als Epiphanien. Zuweilen sind es Hilferufe aus der Gruft einer unüberwindbaren Realität. Denn dass die gewaltsam erzwungene Macht des Impotenten und der Träumerin katastrophale Konsequenzen haben, ist ja präsent. Die merkwürdige, von Dunaway und Beatty brillant herausgespielte Unfähigkeit, richtig hochamerikanisch zu sprechen und dennoch so eloquent und scharfzüngig zu wirken, ist der ständige Vertreter dieses Missverhältnisses. Denn sie können nicht, was sie tun.
„Bonnie und Clyde“. Regie: Arthur Penn. Mit Warren Beatty, Faye Dunaway, USA 1967, 111 Min., Wiederaufführung