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Archiv-Artikel

Auf der Suche nach dem Licht

KUNST Ihre Eltern haben Auschwitz überlebt, sie wurde in Bergen-Belsen geboren. Nun bringt die Malerin Mindy Weisel ihre Bilder nach Deutschland

Mindy Weisel

■  Im Januar 1947 war Mindy Weisel das erste Baby, das nach dem Holocaust im zum Notcamp umfunktionieren Lager Bergen-Belsen geboren wurde. ■  1950 wanderte die Verwandte des Friedensnobelpreisträgers Eli Wiesel mit ihren Eltern, beide Auschwitz-Überlebende, in die USA aus.■  Von 1965 bis 1974 studierte Mindy Weisel Malerei an der California State University, Los Angeles.Seitdem hat die amerikanische Malerin mit ihren Arbeiten auf Leinwand, Papier und Glas 27 Einzelausstellungen in den USA und Israel gehabt und wurde für zahlreiche Preise nominiert.■  2001 erschien ihr Buch „Daughters of Absence: Transforming a Legacy of Loss“, in dem es um die Erfahrungen der Kinder von Holocaust-Überlebenden geht.

■  Im Oktober 2009 wird sie zum ersten Mal ihre Werke in Deutschland zeigen. Ihre Ausstellung „Full Circle“ wird am 22. Oktober in der Berliner Galerie Lorch und Seidel eröffnet. Anschließend hält Mindy Weisel Vorträge in Kiel, München, Dachau und Hamburg

AUS WASHINGTON ANTJE PASSENHEIM

Kobaltblau ist Leben. Und der Stoff, aus dem das Lieblingskleid der Mutter war. Sie trug es, als sie die Hölle von Auschwitz hinter sich ließ – auf dem Weg nach Amerika. Der Tochter hat es sich eingebrannt, das Bild der schönen Mutter in ihrem eleganten kobaltblauen Kleid. In jedem Bild, das die Künstlerin Mindy Weisel malt, kommt sie daher vor: die Farbe Blau. „Meine Bilder sind eine Hommage an meine Mutter und meinen Vater“, sagt sie, die sich selber eine „Tochter der Abwesenheit“ nennt. Mindy Weisel gehört zu den Kindern, deren Eltern Auschwitz überlebt haben. Sie selber hat das Licht der grauen Welt in Bergen-Belsen erblickt.

Doch nicht nur in den Bildern, auch im Leben der Künstlerin und Buchautorin hat im Laufe der Zeit das Kobaltblau über Grautöne gesiegt. Lange hat die 62-Jährige damit zu kämpfen gehabt, dass es sie nur deshalb gibt, weil ihre Eltern nicht wie deren Familienmitglieder in den Gaskammern ermordet wurden. Lange hat sie mit ihrem eigenen Geburtsort gehadert: dem Camp für heimatlose Überlebende in den ehemaligen Wehrmachtskasernen von Bergen-Belsen. Dort, neben den niedergebrannten KZ-Baracken, wurde sie im eisigen Januar 1947 geboren. Bald kommt die Künstlerin mit ihren Bildern nach Deutschland. Erstmals. In das Land, das ihre Mutter und ihren Vater töten wollte.

Ihre Eltern hatten sich schon vor dem Krieg gekannt. Der Vater, Cousin des Friedensnobelpreisträgers Eli Wiesel, kam aus Rumänien, die Mutter aus einer vornehmen ungarischen Familie. Lili Deutsch, so hieß sie, saß beim Passahmahl, als die Nazis an ihre Tür klopften. „Sie überlebte den Holocaust dank ihrer seltenen Blutgruppe“, erzählt Mindy. „Wöchentlich wurde ihr Blut abgezapft, das verletzte deutsche Soldaten mit derselben Blutgruppe bekamen. Mutter bekam deshalb mehr zu essen als die anderen Häftlinge.“ Als der Krieg zu Ende war, zog der Vater los, um sie zu suchen. Er fand sie in einem Krankenhaus bei Halle (Saale). „Vater war 21, hatte Unfassbares erlebt, doch große Teile seiner Familie behalten“, sagt Mindy Weisel. „Mutter dagegen war das einzige überlebende Mädchen ihrer Familie. Ihre Eltern, ihre Geschwister waren ermordet worden. Ein Teil von ihr ist auch in Auschwitz gestorben.“

Die beiden suchten Unterschlupf in Bergen-Belsen – zusammen mit tausenden anderen Menschen, die durch die Hölle gegangen waren, physisch und psychisch krank und einsam. In dieser Umgebung kam Mindy zur Welt. „Ich war eines der ersten Kinder von Bergen-Belsen“, sagt die Amerikanerin, die heute zusammen mit ihrem Mann Sheldon im vornehmen Washingtoner Stadtteil Georgetown lebt. „Ein Kind, dem das Erbe des menschlichen Verlustes mit in die Wiege gelegt worden ist.“ Die große Frau mit dem vollen schwarzen Haar und den tiefdunklen Augen erinnert sich, „dass über allem eine tiefe Schicht von Traurigkeit lag, die ich als Kind absorbiert habe“.

Doch gerade das wollte die Mutter nicht. „Mindele“, habe sie immer wieder zu ihr auf Jiddisch gesagt, „Mindele, lass dich nicht von Traurigkeit beherrschen. Gib dem Schönen Platz im Leben und schau nach vorn.“ Das sagte sie – und blieb doch selber immer traurig. Mindy sah, wie sich die Mutter bemühte: „Sie liebte feine Wäsche, elegante Kleider und Rosen. Vor allem aber liebte sie eins …“ Mindy öffnet einen alten Schrank und holt Teile eines alten Rosenthal-Services heraus, um darin den Kaffee zu servieren. „Das musste mein Vater ihr in Bergen-Belsen vom Schwarzmarkt erjagen, bevor sie bereit war, Deutschland zu verlassen: Nicht ohne Porzellan.“

Im Schönen Halt suchen

Als Lili und ihr Mann 1950 das Schiff nach Amerika bestiegen, trug sie die kleine Mindy auf dem einen Arm – das Rosenthal-Service auf dem anderen. „Sie hat es geschafft, ohne Bitterkeit auf dieses Land zurückzublicken, und hat mich dasselbe gelehrt“, sagt Mindy. Diese Worte ihrer Mutter vergisst sie nie: „Beschränke Deutschland nicht auf die Nazis, Mindy – es gab ein Vorher und es gibt ein Danach. Du musst eines Tages dorthin fahren, um das Schöne zu entdecken.“

Während die Tochter Jahrzehnte später andächtig Milch aus dem zart geblümten deutschen Kännchen in ihren Kaffee gießt, gesteht sie: „Ich habe vor allem in der Schönheit Halt gefunden, aber es war ein langer Weg dorthin.“ Er führte Mindy über die jüdischen Gemeinden in New York und Los Angeles. „Es wimmelte von Kindern der Holocaust-Überlebenden – alle in einem Zustand der Abgeschiedenheit. Die wenigsten hatten Großeltern oder andere Verwandte.“

„Ich kann einfach nicht genug tun, um der Trauer einer ganzen Generation etwas entgegenzusetzen“

Mindys Eltern hatten eine Bäckerei. Sie schufteten von früh bis spät und übertrugen der großen Tochter oft die Verantwortung für ihren kleinen Bruder. „Als Kind zweier Menschen, die derartiges Leid durchgemacht haben, hängt die Latte für deine eigenen Bedürfnisse sehr hoch“, bekennt Mindy. „Du kannst nicht sagen: Mir ist kalt. Denn du hast nicht in Auschwitz gefroren. Du kannst dich nicht beschweren, weil du Hunger hast, denn du hast nie wirklich gehungert. Es ist dir nicht erlaubt, derartige Bedürfnisse zu äußern, denn du hast niemals wirklich so gelitten wie deine Eltern.“ Doch Mindy litt – eben genau darunter.

Mit 14 fand sie ein Notizbuch, in dem ihr Vater in Auschwitz heimlich jiddische Liedertexte aufgeschrieben hatte. Und dann dieses eine Blatt mit einer Zeichnung von einem Bauernhof in der aufgehenden Sonne. „Vater hatte niemals eine Malstunde gehabt, doch als er freikam, bat er als Erstes um einen Stift und ein Blatt Papier und malte, was er sah.“ Das war so lebensbejahend, dass die beeindruckte Teenagerin ihre Mutter bat, die Zeichnung rahmen zu dürfen, und selber zu malen anfing.

Ehrfürchtig holt Mindy Weisel jetzt ein vergilbtes Bild von der Wand ihres Washingtoner Wohnzimmers. „Vaters Bauernhof begleitet mich, wo immer ich hingehe.“ Mindy begann gegen den Willen ihrer Eltern Malerei zu studieren. Mit 18 heiratete sie den Mann, mit dem sie heute noch zusammenlebt, bekam wenig später ihr erstes von drei Kindern und war schließlich 30, als sie ihr Studium beendete. „Einer meiner Lehrer sagte: ‚Male, was du kennst, und sei ehrlich damit. Wenn du nichts dabei fühlst, kann auch der Betrachter deiner Bilder nichts fühlen.‘ “

Mindy nahm es sich zu Herzen, mietete sich ein kleines Studio in New York, malte sich die Seele aus dem Leib. 100 Bilder in einem Jahr. Bilder, die grau sind, düster – und von ihrem traurigen Erbe zeugen. 60 von ihnen haben etwas anderes gemeinsam: Es ist die Nummer A3146, die der Vater seit Auschwitz auf seinem Unterarm trägt. „Ich rief meinen Vater an: Bitte erzähle mir Geschichten aus dem KZ. Er erzählte, ich malte.“ Irgendwann hat Mindy zum ersten Mal in einem Magazin ein Foto aus dem Innern einer Gaskammer gesehen. „Ich dachte, jemand hätte ein Bild von mir fotografiert, und erschrak, als ich merkte, wie ich dieses Foto antizipiert hatte.“

Worte wie Schma – ein bedeutendes jüdisches Gebet – sind unter den Farbschichten zu erkennen. „Das ist mein Grundprinzip, dass ich jedes Bild mit einem Wort beginne, das mich gerade beschäftigt.“ Wortlos sah Mindy dann zu, wie die 30 Bilder ihrer ersten Ausstellung, im Jüdischen Museum New York, allesamt verkauft wurden. Die Zeitungen bejubelten sie. „Über den Holocaust gab es 1979 so gut wie keine Bücher, keine Filme, niemand sprach darüber. Mein Kunsthändler sagte: Das kauft niemand.“ Er irrte. „Die Menschen waren bereit für die Auseinandersetzung.“ Auch Mindy war es.

Es hat einer Therapie bedurft und unzähliger Stunden im Atelier, um an diesen Punkt zu kommen. „Was ich bis heute nicht abschütteln kann, ist das Gefühl, von allem, was ich tue, nicht genug zu tun.“ Oft endete das in einem Zusammenbruch. „Ich merke dann: Ich kann einfach nicht genug tun, um der Trauer einer ganzen Generation etwas entgegenzusetzen. Wenn ich lange nicht male, überwiegt auch bei mir die Traurigkeit. Dann muss ich schnell in mein Studio.“

Der dunklen Phase folgte schließlich eine Explosion von Farben. Leuchtend und emotional kommuniziert Weisel durch sie. „Ich lebe den Augenblick durch diese Bilder“, sagt sie. „In ihnen suche ich das Licht und mache Schönheit unvergänglich. Natürlich trage ich die Trauer weiter in mir, doch ich blicke nach vorn und sehe das Gute.“ Zum Beispiel eine große Familie. Ihre drei Töchter Carolyn, Jessica und Ariane haben inzwischen eigene Kinder – und auch ihr Vater lebt noch, mit 84 Jahren. Als ihre Mutter Lili vor Jahren starb, behielt Mindy drei ihrer Kleider für sich zurück. Teile des Stoffes verarbeitete sie in Bildern. Eins ließ sie zerschreddern und zu Papier verarbeiten, um darauf zu malen. „Der Arzt an Mutters Bett hatte einmal zu ihr gesagt: Lili, let’s dance – lass uns tanzen.“ Danach benannte Mindy die Serie, die sie ihrer Mutter widmete .

„Beschränke Deutschland nicht auf die Nazis, Mindy – es gab ein Vorher und es gibt ein Danach“

Mindy Weisels Bilder hängen in Museen und öffentlichen Gebäuden von Los Angeles über Chicago und New York bis nach Washington, wo die Malerin auch an der renommierten Corcoran Art School lehrt. Nun kehrt sie, die Tochter der Abwesenheit, erstmals mit ihren Bildern in das Land zurück, in dem alles seinen Anfang nahm. Der Kreis schließt sich. „Full Circle“ heißt Mindy Weisels Ausstellung, die bald eine Berliner Galerie zeigt.

Eine Reise ohne Groll

Die Brücke hat die Berliner US-Botschaft geschlagen. Sie sponsert die Reise der Künstlerin, die auch Vorträge in Hamburg, Kiel, München und Berlin halten wird. „Ich komme völlig ohne Groll“, sagt Mindy. Und die Auswahl ihrer Bilder spricht für sich. Sie sind nicht düster und grau. Der „Full Circle“ zwischen Deutschland 1947 und Deutschland 2009 bekommt in der abstrakten Bilderserie auf Papier und Glas einen leuchtenden, farbenfrohen Akzent.

Und natürlich ist auch die Mutter im Spiel – kobaltblau. Lili Deutsch war bereits da, als ihre Tochter kürzlich zur Vorbesprechung in der Galerie war. „Mich lachte ein Bild an“, erzählt Mindy Weisel. Es war das Bild einer anderen Künstlerin, eine Rose, ihre Lieblingsblume. Und in Kobaltblau! „Es war, als würde Mutter sagen: Willkommen in Deutschland, Mindy.“ Mindy Weisel musste das Bild kaufen. Es hängt in Washington. Bei ihr zu Hause.