: Das fast vergessene Genie
Verkannt als 50er-Jahre-Meistermaler hat es lange keine Ernst-Wilhelm-Nay-Retrospektive mehr gegeben. Erstmals widmet ihm nun die Hamburger Kunsthalle eine Einzelausstellung
Von Hajo Schiff
Mit großformatigen Bildern farbiger Kreise gilt Ernst Wilhelm Nay der gängigen Kunstgeschichte als der wichtigste Maler der deutschen Nachkriegsmoderne. Doch trotz solcher Wertschätzung ist er heute „Auf hohem Niveau unbekannt“, wie Kunsthallendirektor Alexander Klar formulierte.
Zwar besitzt die Hamburger Kunsthalle 20 Arbeiten von Nay, das erste Bild davon sogar schon 1947 erworben. Doch seit Jahrzehnten wurde der 1902 in Berlin geborene Maler nicht mehr in der ganzen Breite gezeigt. Denn der Fokus auf die abstrakte Nachkriegsmoderne verengt den Blick auf ein in unterschiedlichen Phasen gewachsenes Werk, wie es jetzt in der Retrospektive mit 120 Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen in der Kunsthalle Hamburg vorgeführt wird.
Als Maler Autodidakt bewirbt sich Nay nach einer abgebrochenen Buchhändler-Lehre 1924 mit rein figürlichen Bildern bei Karl Hofer an der Berliner Akademie und wird als Meisterschüler angenommen. Schon bald wird seine Kunst geschätzt, er verkauft an Museen, erhält Preise und ein Stipendium an der Villa Massimo in Rom. Seine Bilder werden abstrakter und expressiver, nehmen archaisierende und surreale Einflüsse auf. Fischerboote, und Stillleben, stilisierte Tiere und bizarre Landschaften – in dieser Phase lassen sich die späteren großformatigen Bilder mit farbigen Kreisen nicht einmal ahnen. Oder doch?
Die Kuratorin Karin Schick ist von der früher üblichen Konstruktion einer einheitlichen Entwicklungslinie im Werk eines Künstlers nicht überzeugt: Zwar ist die Ausstellung chronologisch aufgebaut, doch immer wieder weist sie mit „Zeitsprüngen“, mit im Kontext früheren oder späteren Arbeiten, darauf hin, wie sich gewisse Elemente und Aspekte durch das Werk als Ganzes ziehen. So sind in den „Dünenbildern“ von 1935 auch die 20 Jahre später bildbestimmen Formen bereits zu entdecken.
Nay wird gefördert und zugleich bekämpft: 1936 noch in einer Ausstellung des Hamburger Kunstvereins vertreten, muss diese nach zehn Tagen geschlossen werden. 1937 kann er sich durch die Vermittlung von Edvard Munch längere Zeit auf den Lofoten aufhalten, seine Bilder aber werden in der Schau „Entartete Kunst“ angeprangert, auch wenn er nicht aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen wird.
Widersprüchlich, aber produktiv ist auch seine Zeit in Frankreich: Seit 1939 Soldat, wird er von französischen Intellektuellen akzeptiert, die in ihm weniger den Besatzer als den in seiner Heimat verfemten Künstler sehen. Als Kartenzeichner im Stab eines Armeeoberkommandos vom kunstsammelnden Vorgesetzten protegiert und unter Ausnutzung von Kontakten zu höheren Funktionsträgern der NS-Maschinerie kann der Obergefreite weiter an seiner expressionistischen Kunst arbeiten. Er bekommt das Atelier eines französischen Amateurkünstlers zur Verfügung, diskutiert mit Ernst Jünger über Raumfragen und besucht Kandinsky in Paris – bei allen Problemen einigermaßen privilegiert übersteht er den Krieg.
Seine Berliner Bleibe ist zerstört, in Hofheim im Taunus wird ihm eine neue Möglichkeit geboten. Schon 1946 stellt er wieder aus, nimmt 1948 an der Biennale in Venedig teil und wird der vielseitig geförderte Star-Maler, der die junge Bundesrepublik international vertritt, auch in Sao Paulo und New York. Ab 1951 lebt er in Köln, der damals wohl wichtigsten deutschen Kunstmetropole.
Das Zerbrochene und der heilende Mythos als Sinn zwischen Ruinen und Naturwesen, gestische Spuren, genialische Empfindungen, archaische Zeichen, explodierende Sterne … es wurde angesichts dieser Bilder unweigerlich eine mitunter raunende, bestenfalls poetische, selten konkrete Sprache verwendet. Nach einem knappen Vierteljahrhundert erscheint beides, solche Kunst und solche Sprache der nachfolgenden Generation in den Sechzigern ganz überholt und der Traum der Moderne von einer Wissenschaft und Emotion gleichermaßen abdeckenden abstrakten Universalsprache gescheitert.
Trotz seines Manifests „Vom Gestaltwert der Farbe“ fand Nay es problematisch, selbst unmittelbar über seine Bilder zu sprechen. Seine einzige Verpflichtung als Hochschullehrer erfolgte 1953 für ein Gastsemester in Hamburg. Und hier erhielt er auch 1955 den Lichtwark-Preis, Hamburgs wichtigstem Kunstpreis.
Die Fünfzigerjahre stehen im politisch geführten Lagerkampf zwischen der verordneten Figuration im Osten und der angeblich die Freiheit verkörpernde und von der CIA geförderten Abstraktion im Westen. Das wurde oft ideologisch vereinfacht und stark von außen an die Kunst herangetragen. Doch in den Sechzigern befindet eine junge politisch engagierte Generation, die Abstraktion ihrer Lehrer sei bloß ein letztlich belangloses inhaltsleeres Ornament.
Der stets auf inhaltlichen Austausch bedachte Nay war davon schwer gekränkt. Ging es dem vielseitig gelehrten Künstler doch immer um ein Bild der Welt, aber einer Welt, deren Energie und Wesen in eindeutigen Figuren nicht mehr hinreichend fassbar war. Vom Kosmos zur Elementarphysik, von historischen Urbildern zu psychischen Energien, all das kann ein Bildraum nur in der Fragmentierung fassen, in einer Auflösung in sich überlagernde Mehrdeutigkeiten, wie sie auch die zeitgenössische Musik und Literatur jener Jahre praktizierte.
Auch ohne wissenschaftliche oder philosophische Referenzen verbreitet Nays Malerei oft einfach Freude. Die warme, geradezu tropische Dynamik einer unbestimmt außereuropäischen Stimmung ist bei dem Bild „Afrikanisch“ von 1954 schon zu spüren, bevor sich der Titel aufdrängt. Es lohnt sich, diesen 1968 in Köln gestorbenen Maler mit seiner kaleidoskopartigen Farbpracht und rhythmischen Energie, den Körperchiffren und späten Graphismen, den Molekülstrukturen und verborgenen Augen neu zu entdecken und vielleicht sogar wieder fruchtbar zu machen: Die Kunsthalle will in zwei Performances mit heutigen Studierenden der Hochschule für bildende Künste eine aktuelle Befragung der Bilder proben.
Und so ganz vergessen ist Nay ja auch nicht: Die einst besonders kontrovers diskutierten, bei der dritten Documenta 1964 schräg unter der Decke montierten drei Bilder hängen heute im Presseraum des Bundeskanzleramts – und sollen mit ihren vielen angedeuteten Augen manche noch immer nerven.
Ernst Wilhelm Nay. Retrospektive: bis 7. 8., Hamburger Kunsthalle
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