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Die ewige Antimoderne

Antiaufklärerische Ressentiments damals und heute: Karl-Heinz Otts Ideengeschichte reaktionären Denkens

Foto: Einer zwischen Moderne und Antimoderne: François-René de Chateaubriand. Statue in Saint Malo, Bretagne Foto: Peter Schickert/imago

Von Claus Leggewie

Zu seinem 50. Todestag wurde letztes Jahr der ungarische Philosoph Georg Lukács aus der Versenkung geholt. Von ihm stammt das auf Theodor W. Adorno gemünzte Bonmot, ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz habe Grand Hotel Abgrund bezogen, ein „schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrundes, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.“ Der Angegriffene konterte, der marxistische Dogmatiker strebe eine politische Ordnung an, die Seinsgewissheit vorgaukelt, aber letztlich totalitär sei.

Abgründe tun sich gegenwärtig überall wieder auf: die Zerstörung der Natur, des Friedens, der Demokratie, unserer Welt also. Viele fliehen aus der unübersichtlichen Moderne in politischen Nihilismus, Karl-Heinz Ott betreibt kühle Gegnerbeobachtung. Der zuletzt mit einer glänzenden Hölderlin-Interpretation hervorgetretene Schriftsteller übermittelt seine Lesefrüchte reaktionären Denkens fast im Plauderton, in kürzeren und längeren Vignetten entsteht eine Ideengeschichte der Gegenaufklärung und Antimoderne. Wie kann man, ist seine Frage, eine ganze Epoche, nämlich die „verfluchte Neuzeit“ verdammen, die zu einem Selbstdenken animiert, ihre Kritiker hingegen als Zerfall jeglicher Ordnung und das Ende aller Gewissheiten deuten?

Rechte Vor- und Querdenker wollen die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts ungeschehen machen, und da sie neuerdings wieder an Bedeutung gewinnen und politische Entscheidungen (wie die Donald Trumps und Wladimir Putins) beeinflussen, verdienen sie hohe Aufmerksamkeit.

Otts Kronzeuge ist der Philosoph Leo Strauss (1899–1973), der hierzulande kaum bekannt ist, dessen fachinterne Rezeption aber bis heute anhält. Dem jüdischen Kaufmannssohn aus Oberhessen hatte schon kurz vor der Machtübergabe ein Rockefeller-Stipendium das Exil in den USA ermöglicht. Ott zitiert eine vielsagende Passage aus einem Brief vom Mai 1933 an den gleichfalls jüdischen Kollegen Karl Löwith: „Daraus, dass das rechts-gewordene Deutschland uns nicht toleriert, folgt schlechterdings nichts gegen rechte Prinzipien“, womit ausdrücklich „fascistische, autoritäre und imperiale Prinzipien“ gemeint waren.

Karl-Heinz Ott: „Verfluchte Neuzeit“. Hanser Verlag, München 2022, 432 Seiten, 26 Euro

Nicht Antisemitismus und Rassismus, nein: Der westliche Liberalismus war und blieb der Hauptfeind der rechten Intelligenz, stellvertretend für breite Kreise des deutschen Bürgertums. Die philosophische Weihe dieses Verrats der Intellektuellen holten sich Strauss und andere bei dem griechischen Philosophen Platon. Ihr Konservatismus zielte mehr an als die Restauration von Monarchie und Kirche, Familie und Vaterland, sie wollten den zersetzenden Relativismus der Moderne ihrerseits mit revolutionären Mitteln bekämpfen.

Im Visier hatte Martin Hei­deg­ger das „Weltjudentum“, für ihn „keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als ‚weltgeschichtliche‘ Aufgabe übernehmen kann“. Kernbotschaft reaktionären Denkens ist die Auflehnung gegen die vom umherirrenden Juden Ahasver verkörperte „planetarische“ Zügel-, Ziel- und Bodenlosigkeit.

Während Strauss und Eric Voegelin nach dem Krieg in Deutschland nicht mehr Fuß fassen konnten, blieben die Ideen der NS-Gehilfen Carl Schmitt und Martin Heideg­ger auch nach dem Verlust ihrer Lehrstühle virulent, nicht zuletzt in Richtung „Eurasien“. Diese Szene ist gut erforscht, und Ott attackiert ein weiteres Mal die Lebenslüge der alten Bundesrepublik, derzufolge der Geist durchgängig links zu stehen hat. Interessanter ist seine Spurensuche der Straussianer und Schmittianer bei Neo- und Theokonservativen und ihr Beitrag zu einer ätzenden Liberalismuskritik von Washington über Moskau bis Beijing.

Der westliche Liberalismus war und blieb der Hauptfeind der rechten Intelligenz

Nicht dass George W. Bush, Donald Trump und Xi Jinping auf einmal Philosophie studiert hätten, aber Strauss & Schmitt light trafen den Nerv einer kulturellen Gegenrevolution. Die Grenzen zwischen Konservatismus und Rechtsradikalismus verschwimmen, der zahnlose „Gärtnerkonservatismus“ (Armin Mohler) gerät in den Sog des völkisch-autoritären Nationalismus und „faschistischer, autoritärer und imperialer Prinzipien“.

Eric Zemmour, der zur Rettung des guten alten Frankreichs tief ins gegenrevolutionäre und faschistische Repertoire greift, fehlt ebenso wie Julius Evola, der Ahnherr der Reaktion, und dessen russische Adepten. Doch belegen Otts Skizzen zu Michel Houellebecq, dem ehemaligen US-Justizminister William Barr, dem polnischen Europaabgeordneten Ryszard Legutko oder dem ultrakatholischen Politologen Patrick J. Deneen die Allgegenwart der Gegenaufklärung heute. Ott zeigt, wie die Selbstaufgabe liberaler Prinzipien im Neoliberalismus und in der Identitätspolitik Terraingewinne der Rechten begünstigt hat; besonders aufschlussreich sind hier die Abschnitte über die ambivalenten Denker des „Post“, bei denen Jacques Derrida stets den Vorzug vor Michel Foucault bekommt.

Ein Vorzug des Buches ist, dass es kein bierernstes Kampfgeschrei anstimmt und die Exponenten der Modernekritik nicht dämonisiert. Gerechtigkeit, ja sogar Bewunderung für seine geistige Autonomie erfährt in einem Postskriptum auch François-René de Chateaubriand, der als Ultrareaktionär gehandelte Gegner der Französischen Revolution. Die Antimoderne ist so alt wie die Moderne und ein Teil von ihr, lernt man bei Ott. Die praktische Zerstörung der Vernunft kann nur aufhalten, wer ihre theoretischen Feinde kennt. Darin hatte Lukács wohl recht: Am Abgrund müssen wir verflucht neuzeitlich bleiben.

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