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„Wir werden uns daran nicht gewöhnen“

Er war und ist Hippie – mit Flowerpower und Peace. Jetzt lebt er im Krieg. Alik Olisevych berichtet aus Lwiw, wo der alte Alltag nie mehr der neue Alltag sein wird

Aus Lwiw Alik Olisevych

Menschen im Krieg – sie schreiben auf, was sie erleben, was sie fühlen, was sie fürchten. Es sind Notizen, fragmentarisch mitunter oder als Tagebuch. Diesmal schreibt der Beleuchter des Opernhauses von Lwiw, Alik Olisevych. 1958 in Lwiw geboren, war er einer der Gründer der Hippie-Bewegung in Lwiw. Lange Haare, westliche Musik und nonkonformes Denken machten die Hippies verdächtig, sie galten den KP-Funktionären in Kiew und Moskau als „bourgeoise Nationalisten“, „antisowjetische Agitatoren“ oder auch als „geisteskrank“. Vor die Musterungskommission trat Alik mit wehendem Haar und Kriegsbemalung. Die Kommission hielt ihn für „wehrunwürdig“ und wies ihn in die Psychiatrie ein. Nach einem Monat kam er raus und schlug sich als Nacktmodell an der Kunstakademie durch. Seit den achtziger Jahren arbeitet er als Beleuchter im Opernhaus. Über Alik und das Leben der Hippies von Lwiw erzählt Andrej Kurkow in seinem Roman „Jimi Hendrix live in Lemberg“ (Diogenes 2014).

Samstag, der 19. März

Ich arbeite als Beleuchter in der Oper von Lwiw. Die letzte Vorstellung war am Mittwoch, den 23. Februar, am nächsten Morgen war Krieg. Am ersten Tag war alles chaotisch. Keiner wusste etwas. Sind die Russen vielleicht schon kurz vor Lwiw? Das hat sich beruhigt. Mehr als 200.000 Flüchtlinge sollen jetzt in der Stadt sein. Ich bin fast täglich in einem Freiwilligenzentrum direkt am Markt. Es ist die Kinder- und Jugendbibliothek von Lwiw. Ich kenne Tanja Pilipez, die Leiterin, gut. Sie hat sofort Räume für Helfer und Flüchtlinge geöffnet. Inzwischen gibt es mehrere solcher Zentren. Tagsüber kann jeder, solange er will und Zeit hat, helfen. Wir machen Tarnnetze für die Armee. Die einen schneiden Stoffstreifen, die anderen knoten sie in die Fischereinetze. Da sind Lehrer dabei, Künstler, eine Professorin aus Berdjansk am Asowschen Meer. Andere kommen aus Charkiw, Kiew, Dnipro, Cherson. Wir erzählen uns gegenseitig von unserem Leben, wie es war, vor dem Krieg.

Tanja organisiert fast jeden Tag ein Kulturprogramm. Heute gab es eine Ausstellungseröffnung. „Ukraine, Krieg, Menschen“ heißt die Schau mit Fotos zum Krieg. Eine Freundin von mir, Tetjana Danilowa, ist auch mit dabei. Sie ist 72 Jahre alt, eigentlich aus Kiew, lebt aber seit fünf Jahren in Lwiw. Sie hat mich mit einem kleinen Mädchen fotografiert. Das Foto hängt nun dort. Wir waren etwa 200 Leute bei der Vernissage.

Später hat Dima noch eine Box aufgestellt und Musik angemacht, Blues, Rock’n Roll. Musik tut der Seele gut. Dima kommt aus Mykolajiw am Schwarzen Meer. Die Russen haben sein Haus zerbombt, erzählt er. Da ist er mit seinen Eltern ins Auto gestiegen und los. Unterwegs wurden sie beschossen. Jetzt leben sie hier bei Freunden.

Ab sechs richten die Flüchtlinge die Bibliothekssäle für die Übernachtung her. Viele sind auch tagsüber mit dabei. Ich bin heute bis sechs geblieben und dann zurück nach Hause. Ich wohne am Stadtrand. Bis um zehn muss man zu Hause sein, dann beginnt die Ausgangssperre, die bis sechs Uhr dauert. Ich bin Hippie, ich bin gegen Gewalt. Meine Parole ist peace, love, freedom. Aber das, was ich gerade erlebe, ist eine Bewegung mit vielen Freiwilligen, vielen jungen Leuten, die unglaublich zuversichtlich gestimmt sind.

Montag, der 21. März

Heute gab es immer wieder Luftalarm. Die Sirenen heulten schon nachts um drei, dann um sechs. Wenn sie jaulen, geraten die Leute nicht mehr in Panik. Auch die Trolleybusse fahren weiter. Viele Leute denken: Was kommt, kommt. Ich bin gegen Mittag ins Café „Virmenka“, es ist ein armenisches Café. In Lwiw gibt es seit dem Mittelalter eine armenische Gemeinde. Seit meiner Jugend ist das „Virmenka“ ein Treffpunkt, jetzt ist es auch Info-Zentrum. Hier findet man Leute, die Unterkünfte vermitteln. Künstler stellen ihre Ateliers zur Verfügung. Die Sporthallen, Schulen, Institute – alles ist übervoll.

Um halb vier bin ich ins Opernhaus. Ich war zum ersten Mal seit Kriegsbeginn dort. Das Orchester, das Ballett, Bühnenarbeiter, alle waren da. Wir wollten eine Produktion aufzeichnen fürs ukrainische Fernsehen; ein zeitgenössisches Ballett, gewidmet den Menschen in Mariupol. Am 16. März wurde dort das Theater zerstört. Wir hatten eben begonnen, da heulten die Sirenen. Alle sind in den Keller. Zwei Stunden warteten wir. Die Russen schicken jetzt auch Raketen vom Schwarzen Meer aus. Sie könnten unser Opernhaus treffen.

Mittwoch, der 23. März

Heute blieb es ruhig. Mittags war ich im „Virmenka“, wo ich Vitalik traf. Er ist dreißig, Reiseführer, oft auf dem Balkan unterwegs, viel in Montenegro. Jetzt hilft er Flüchtlingen am Bahnhof. Er ist unglaublich aktiv. Solche Menschen sind unsere Zukunft, sie ziehen uns Alte mit. Später stieß noch Jaroslaw Bosenko dazu, ein Maler aus Kiew. Er lebt in einer Sporthalle und sucht eine Bleibe, wo er malen kann.

Wir haben einen berühmten Bauernmarkt, den Galizischen Basar. Dort habe ich Blumen gekauft für die Frauen im Freiwilligenzentrum. Ich bin doch ein Blumenkind. Später habe ich gehört, dass der Sohn von Halyna, einer Freundin, tot ist. Vor über dreißig Jahren gehörte sie zu den Hippies. Später ist sie Mutter geworden. Und jetzt ist ihr Sohn tot. Teodor Osadscha war 20 Jahre alt und gehörte zu den über 50 Rekruten, die am 19. März beim Raketenangriff auf die Kaserne in Mykolajiw ums Leben kamen.

Donnerstag, der 24. März

Den ganzen Tag schien die Sonne und ich habe zu einem Picknick eingeladen. Ich lebe in einem Gehöft mit mehreren kleinen Wohnungen, gegenüber liegt ein See. Tetjana, die Fotografin, war dabei, Dima aus Mykolajiw und mein Nachbar Valentin. Wir haben Würstchen gegrillt und „Open Blues“-Schnaps getrunken. Das ist ein Brandy, den Freunde von mir vertreiben, Blues-Musiker. Wir hatten eine Flasche und haben angestoßen auf den Frieden. Es war unser Tag des Friedens.

Freitag, der 25. März

Im Freiwilligenzentrum gab es eine Überraschung. Ich habe Irina getroffen, die Frau von Serhij Schadan, dem Schriftsteller aus Charkiw. Serhij schreibt nicht nur Bücher, er macht auch Musik. Im Januar haben wir uns kennengelernt, in Lwiw. Und nun ist er in Charkiw. Irina kommt nun täglich in die Bibliothek.

Samstag, der 26. März

Heute Nachmittag gab es ein Open-Air-Konzert. Mein Freund Oleh „Kalych“ Kalytowskij ist auch aufgetreten. Sechs Leute haben gespielt. Plötzlich heulten die Sirenen. Zwei Lieder vor Schluss. Alle sind rein ins Erdgeschoss, wo die Wände am dicksten sind. Eine Viertelstunde später riefen Freunde an und sagten, dass Lwiw getroffen wurde. Nicht weit vom Zentrum brannte ein Öllager. Gegen sechs bin ich nach Hause, mit dem Sammeltaxi, weil die Trolleybusse keinen Strom hatten. Um sieben gab es wieder Alarm und kurz darauf habe ich Explosionen gehört. Ein Werk wurde getroffen, aber auch eine Schule und ein Kindergarten. Es soll keine Toten gegeben haben. Die Menschen sind geschockt, aber sie sind nicht in Panik. Ich glaube, die „Raschisten“ werden Lwiw weiter bombardieren. Es ist ein Verkehrsknoten. Viele Transporte laufen über Lwiw. Ich nenne die Russen jetzt „Raschisten“, das Wort ist zusammengesetzt aus Russia und Faschisten.

Montag, der 28. März

Ich habe meiner Mutter heute Kartoffeln aus der Kartoffelmiete geholt, sie ist 87, wohnt nebenan. Am Nachmittag war ich mit meinen Nachbarn Genik und Orest angeln am See. Wir haben Rotfedern und Plötzen rausgeholt und sie abends auf den Grill gelegt. Wir saßen beisammen, bis es dunkel wurde. Es war ein schöner Abend. Am Vormittag heulten die Sirenen und später nochmal. Heute weiß keiner, was die nächste Stunde bringt. Da ist es friedlich am See und im nächsten Moment kann eine Rakete einschlagen.

Dienstag, der 29. März

Es gab heute Nachmittag eine Performance vor der Bibliothek. Schauspieler, Autoren, Musiker haben Berichte von Augenzeugen vorgetragen. Sie handelten von Kindern, die gestorben sind, von Toten ohne Gliedmaßen und ohne Gräber. Zwischendurch gab es Musik auf einer Bandura, der ukrainischen Laute. Paletten waren auf der Straße ausgelegt, auf denen die Umrisse der Ukraine gezeichnet waren. Und da, wo Städte liegen, wurden Schuhe hin genagelt, Schuhe von Menschen, die es nicht mehr gibt. Zum Beispiel ein Paar rote Sandalen von Nina. Sie wurde 49 Jahre alt. Ein Paar Turnschuhe von Andriy, er wurde 12. Viele haben geweint. „Wir werden uns nicht an Krieg gewöhnen“, hieß die Performance.

Am Abend gab es eine sehr traurige Nachricht. Ivan Cherednichenko ist der Chefdirigent an unserem Opernhaus. Er hat erfahren, dass die „Raschisten“ seine Eltern in Irpin ermordet haben. Ivan hatte den Kontakt zu ihnen verloren. Freiwillige haben die Eltern in der Nähe ihres Wohnhauses gefunden. Sie haben ihrem Sohn die Liebe zur Musik mitgegeben, nicht zu Raketen und Panzern. Wir sind im Opernhaus eine große Familie und wir sind unendlich traurig.

Ich will, dass ihre Namen nicht vergessen werden: Es waren Nadja und Wolodymyr Cherednichenko.

Protokolliert und übersetzt aus dem Russischen von Thomas Gerlach

An dieser Stelle schreiben wöchentlich Ukrai­ne­r:in­nen über ihre Erfahrungen im Krieg.

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