Eine Welt, gesegnet mit nichts

ZUSAMMENHÄNGE Ein gewaltiger Weltentwurf und darin kein falscher Ton: „2666“ – der letzte, überwältigende Roman des Roberto Bolaño

Kein persönliches Kamikaze, keine Form menschlicher Verschwendung scheint diesem Autor fremd zu sein

VON EVA-CHRISTINA MEIER

Am Ende im Wettlauf mit dem Tod schrieb Roberto Bolaño, der chilenische Schriftsteller mit Wohnsitz in Katalonien, an „2666“, seinen letzten großartigen Roman. Er verfehlte das Ziel, wenn auch zum Glück nur knapp; ein Teil blieb unvollendet. 2003 starb Bolaño mit gerade einmal fünfzig Jahren an den Folgen einer chronischen Hepatitis. In Spanien wurde sein Manuskript im darauffolgenden Jahr posthum veröffentlicht. In den USA nahm die New York Times das Buch 2008 (genauso wie „Die Wilden Detektive“ zuvor) als einziges fremdsprachiges Werk in ihre Liste der zehn besten Bücher auf. Nun liegt auch die deutsche Übersetzung von „2666“ vor.

Der Roman füllt 1.100 Seiten, besteht im Grunde aber aus fünf eigenständigen, locker miteinander verzahnten Erzählungen. Es lässt sich nicht leicht über ihn berichten. Ihn zu lesen ist – auch dank der gelungenen Übersetzung von Christian Hansen – hingegen von der ersten bis zur letzten Seite ein seltenes Vergnügen. So etwas von einem Buch zu behaupten, das allein ein Viertel seines Umfangs der minutiösen Feststellung aller zwischen Januar 1993 und Ende 1997 in Ciudad Juárez brutal begangenen Frauenmorden widmet, mag abwegig erscheinen. Aber gerade dieser Teil ist zentral für die Entwicklung des Romans und für Bolaños Sicht auf die Welt. In einem seiner letzten Interviews antwortet er auf die Frage, wie seiner Meinung nach die Hölle aussähe: „Wie Ciudad Juárez, unser Fluch und unser Spiegel, der beunruhigende Spiegel unserer Frustrationen, unserer infamen Interpretationen der Freiheit und unserer Sehnsüchte.“ Für Bolaño gibt es keinen Grund, davor die Augen zu verschließen.

Santa Teresa, wie diese mexikanische Stadt im vierten, „Teil von den Verbrechen“ überschriebenen Abschnitt des Buches genannt wird, liegt in unmittelbarer Nähe zur US-amerikanischen Grenze. Fast alle Opfer sind zugewanderte junge Frauen, die in den maquiladoras, den zahlreichen Niedriglohnfabriken ihr Glück suchen. Die meisten der grausamen Vergewaltigungsmorde – der Standard der Polizeiberichte vermerkt: „anal und vaginal“ – bleiben unaufgeklärt. Selbst die Identität der gefundenen Leichen ist oft nicht herauszufinden. Die Frauen werden von niemandem vermisst. Gerichtsmediziner obduzieren, Polizisten ermitteln – einige von ihnen sind durchaus aufrichtig bemüht wie der Kommissar Juan de Dios Martínez. Im Zuge einer Mordermittlung lernt er in Bolaños Roman die wesentlich ältere und belesene Leiterin der örtlichen Nervenheilanstalt kennen und beginnt mit ihr eine für ihn ungewöhnliche Affäre.

Auch der siebzehnjährige Lalo Cura (span. la locura – der Wahnsinn) ist in dem System, das Bolaño entwirft, ein Außenseiter. In Santa Teresa beginnt er als einfacher Streifenpolizist, nachdem er ursprünglich für einen Drogenboss als Leibwächter engagiert wurde. Unbeirrt von den abgründigen Exzessen seiner Kollegen, verfolgt er seine Polizeiarbeit. Doch bleiben sie beide, Martínez wie Cura, erfolglos.

Bolaño hat selbst viele Jahre in Mexiko gelebt, bevor er Ende der Siebzigerjahre nach Spanien ging. Im „Teil von den Verbrechen“ entwirft er das präzise Bild einer durch Drogenökonomien und neoliberalem Dritte-Welt-Kapitalismus aus den Fugen geratenen Grenzregion, in der Gewalt strukturell und gesellschaftlich verankert ist – genauso wie der Mangel an Widerstand gegen diese Verhältnisse. Mal führen Spuren der Täter ins Umfeld des organisierten Verbrechens, mal sind die Morde eine Folge häuslicher Gewalt und Eifersucht. Ein (Frauen-)Leben ist nicht viel wert in Santa Teresa. Und so tauchen viele der Leichen auf den unkontrolliert wuchernden Müllkippen wieder auf.

Das alles ist nur ein Strang dieses weit ausholenden Romans. Erstaunlich ist Bolaños Fähigkeit, mit leichter Geste, ohne sichtbare Anstrengung verschiedene Welten zu verknüpfen; in „2666“ bringt er den Alptraum von Santa Teresa etwa mit der fiktiven Biografie des deutschen Nachkriegsschriftstellers Benno von Archimboldi zusammen. Genauso bemerkenswert ist aber auch Bolaños Interesse, Geschichte eben in solch ungewöhnlichen Zusammenhängen zu denken.

Die Erforschung des mysteriösen Archimboldi führt zwar schon ganz zu Beginn des Buches, im „Teil der Kritiker“, eine Gruppe von Literaturwissenschaftlern ausgerechnet nach Santa Teresa. Aber erst im fünften „Teil von Archimboldi“ wird sein „Geheimnis“ gelüftet. Dieser Abschnitt zeichnet die Entwicklung Hans Reiters (der sich später das Pseudonym Archimboldi geben wird) vom etwas wunderlichen Knaben aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und Soldaten zum vielversprechenden Schriftsteller im zerbombten Nachkriegsdeutschland nach. Bolaño fügt jede Menge verblüffendes Detailwissen über Frontverläufe, Kriegsverbrechen und politische Säuberungen hinzu. Und immer wieder eingestreut sind Titel von Büchern und Namen von Autoren. Alles, nicht nur sein eigenes Leben, scheint bei Bolaño mit Literatur verwoben zu sein – sogar die Literatur selbst ist es.

Ohne jede Vereinfachung entstehen dabei Szenen, die nie einen falschen Ton anschlagen und deren Protagonisten deutschen Nachkriegsfilmen wie Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ (1946) oder „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef (1950) entliehen zu sein scheinen.

Der Wendepunkt im Leben dieses Hans Reiter tritt ein, als er zur Genesung seiner Schussverletzung in das besetzte Dorf Kostekino verlegt wird. Im verlassenen Haus eines jüdisch-russischen Ehepaares findet er die versteckten Aufzeichnungen ihres Sohnes Boris Ansky, eines jungen Kommunisten. Bolaño lässt Reiter in der Lektüre versinken. Und so öffnet sich auch für den Leser an dieser wie an so vielen anderen Stellen eine weitere Erzählung – diesmal über Ansky und sein turbulentes Leben im revolutionären Moskau sowie über Iwanow, einen Schriftsteller, der den Säuberungen Stalins zum Opfer fällt, und seinen Science-Fiction-Roman „Der Sonnenuntergang“. Ebenfalls durch Ansky lernt Reiter auch den italienischen Renaissance-Maler Giuseppe Arcimboldo und seine Umkehrbilder kennen – Stillleben, die sich auf dem Kopf stehend als Porträts erweisen.

Die Erzählung wird von Bolaño stetig vorangetrieben. Nach Kriegsende trifft Hans Reiter im Gefangenenlager der US-Armee auf die Figur des Kriegsverbrechers Sammer. Dieser war für die Erschießung von 500 griechischen Juden zuständig. Nun versucht er mit falscher Identität sich einer Verurteilung zu entziehen. Reiter bringt ihn in der Erzählung um, bleibt aber unverdächtig. Seinen ersten Roman veröffentlicht der neue Schriftsteller kurze Zeit später unter seinem zukünftigen Namen: Benno von Archimboldi – vorgeblich um dadurch die Spuren an dem Mord zu verwischen.

Auf den merkwürdigen Namen angesprochen, nennt Archimboldi ganz selbstverständlich Benito Juárez, den aus einfachen Verhältnissen stammenden mexikanischen Präsidenten indianischer Herkunft, als Namensgeber. Auch hierin zeigt sich eine Spezialität Bolaños. Sie besteht darin, reale Personen und Begebenheiten zu zitieren und in seiner Literatur neu zu mischen. Benito Juárez, der Name des großen mexikanischen Reformers, fällt bereits in einer zwischen die Frauenmorde eingestreuten Erzählung einer Fernseh-Hellseherin. Dieser Roman ist auch eine gewaltige Detektivarbeit. Unter anderem wegen solcher nebenbei stattfindender Manöver verliert man nie die Lust an ihm und folgt gespannt nicht nur der Handlung, sondern auch den vom Autor zahlreich hinterlegten Koordinaten.

Und die Verweise auf Bolaño selbst? Kritiker sichteten sein Alter Ego in „2666“ mal in der Person des Literaturwissenschaftlers und Archimboldi-Forschers Pelletier (so etwa die Welt), mal im Schriftsteller Benno von Archimboldi selbst (etwa der New Yorker). Auch die Figur des im spanischen Exil lebenden chilenischen Philosophie-Professors Oscár Amalfitano kommt in Frage. Im „Teil von Amalfitano“ verabschiedet sich seine Frau Lola eines Tages von ihm und ihrer gemeinsamen Tochter. Sie bricht auf mit der Idee, einen ihnen bekannten Dichter in der Irrenanstalt im Baskenland zu besuchen. Ohne Aufregung schildert Bolaño, wie Lola bald selbst aus der Bahn gerät und fortan auf Friedhöfen oder der Straße übernachtet. Sie lässt sich von Zufallsbekanntschaften abschleppen – ohne dass dieser Zustand sie zu berühren scheint. Jahre später taucht Lola noch einmal in Amalfitanos Leben auf. Kurz darauf stirbt sie an Aids. Daraufhin verlässt der Chilene in Bolaños Ensemble mit seiner Tochter Spanien und folgt einem Ruf an die Universität von Santa Teresa!

Keine Form menschlicher Verschwendung, kein persönliches Kamikaze scheint Bolaño fremd zu sein. In seinem eigenen Leben gab es ausreichend Gelegenheit, von beidem zu kosten – als Subkulturpoet und Literaturprovokateur in Mexiko genauso wie als Campingplatzwärter und Gelegenheitsjobber in Spanien. Aber Roberto Bolaños Leben war vor allem ein Leben mit Büchern, und so erstaunt es nicht, dass Amalfitano im Moment größter Ratlosigkeit ein Buch in die Hände fällt. Aber selbstverständlich bietet es keine Rettung, sondern öffnet nur eine weitere Tür.

■ Roberto Bolaño: „2666“. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag, München 2009, 1.096 Seiten, 29,90 Euro