: Das Grollen in der Natur
Esther Kinsky erzählt von einem Erdbeben in Norditalien, von Verwandtschaftsverhältnissen und kargen Böden, vertrackten Tänzen und der Materialität von Landschaft und Erinnerungen: „Rombo“
Von Eva Behrendt
Schwer kommt man in dieses Buch. Es beginnt mit der gründlichen Beschreibung einer Gebirgslandschaft, einem „Bilderbuch der Gewaltigkeiten“, das „genau auf der unsicheren Überlappung zweier Kontinentalplatten“ steht, „denen so, wie sie liegen, nicht wohl ist“. Tatsächlich erschütterten 1976 schwere Erdbeben das Tal im nordostitalienischen Friaul an der Grenze zum damaligen Jugoslawien; fast 1.000 Menschen starben. Unter der Überschrift „6. Mai“ – dem Tag des ersten Bebens in dem Jahr, ein weiteres kam im September – folgen einzelne Impressionen in kleinen Abschnitten, beiläufig fallen Namen, als müsste man Anselmo, Olga, Lina, Mara und Toni längst kennen. Von unruhigen Schlangen, Ziegen und Vögeln ist die Rede, vom Sensen und Kartoffelhäufeln, von seltsamen Wetterphänomenen wie großer Hitze und kaltem Wind und einer gespiegelten Doppelsonne über dem zentralen Gipfel der Region, dem schneebedeckten Monte Canin.
Es ist eine Art Trümmerfeld, teils trügerisch aufgeräumt, teils verwirrend chaotisch, das Esther Kinsky der Leserin in ihrem Roman „Rombo“ überlässt, benannt nach dem mythischen und ganz realen Grollen, mit dem sich das Beben ankündigt und das es begleitet. Auch im Folgenden fordert seine Lektüre hohe Konzentration und ja, Arbeitslust, denn hier wird niemand an die Hand genommen und entlang einer Handlung durch den Text gelotst; Orientierung muss man selber suchen. Da sind zum einen die sieben Protagonistinnen und Protagonisten, die Kinsky real oder fiktiv nach ihrem Leben befragt hat. Sie kommen aus einem namenlosen Dorf, das vom Erdbeben betroffen war und doch verhältnismäßig glimpflich davonkam; die meisten waren Kinder und Jugendliche, als sich der Rombo ereignete.
Esther Kinsky: „Rombo“. Suhrkamp, Berlin 2022. 267 Seiten, 24 Euro
Aus ihren bruchstückhaften Erzählungen, die jeweils mit ihren Vornamen überschrieben sind, schälen sich nach und nach Verwandtschaftsverhältnisse und Beziehungen heraus, Familientragödien und Milieukontexte: Die Leute aus dem „Pissbecken vom lieben Gott“ mit seinen kargen Karstböden waren schon vor dem Beben so arm, dass viele ausgewandert sind, manche pendelten zur Arbeit nur ans Mittelmeer, andere nach Deutschland und in die Schweiz, Olgas Familie war sogar in Venezuela, kehrte aber nach dem Tod ihrer Mutter und Großmutter wieder zurück. Sie arbeiten in Fabriken und in der Hotellerie, als Scherenschleifer oder Zimmermädchen, während die Kinder im Dorf bei den Kranken und Großeltern bleiben oder erbarmungslos hin oder her verschickt werden. Nur wenige wie der Ziegen-Gigi oder die Knoblauch-Lina haben hier dauerhaft als Hirten, Bauern und Waldarbeiter gelebt.
Esther Kinsky erzählt aus wechselnden Ich-Perpektiven in einer betont einfachen und doch geformten Sprache. Über mehrere Seiten etwa denken die Stimmen der Bergdörfler über das Wesen von Erinnerung nach, fast als hätte die Autorin jedem und jeder die gleiche Frage gestellt: „Die Erinnerung ist wie etwas, an dem ständig gewoben wird. Alles, was man also sieht und hört und denkt und riecht, ist wie ein Faden in diesem gewebten Erinnerungstuch“, so Olga. „Ja, was ist Erinnerung? Die Erinnerung, das sind wir selbst.“ Toni, der zeitlebens von Moskau träumt, stellt fest: „Wenn ich eine Erinnerung erzähle, wird sie etwas ganz anderes. Etwas, was nicht mehr zu mir gehört.“ Mara wiederum definiert sie als „eine Art, Ordnung zu halten. Im Schmerz.“
Doch die Menschen sind nur ein Teil der Natur, deren brutale Umwälzung die Autorin schildert. Mit beinahe enzyklopädischer Gründlichkeit arbeitet sich Kinsky durch Fauna, Flora und Geologie des Tals, in jedem der sieben Kapitel setzt sie dabei andere Schwerpunkte. In knappen, zwischen die Ich-Erzählungen geschossenen Absätzen porträtiert sie „Blumen der Kargheit“ wie Nieswurz, Mannstreu und Teufelssporn, Vogelarten wie Kuckuck und Ziegenmelker oder die Flüsse Tagliamento und Fella, die im Tal zusammenfließen. Auf derselben Ebene stellt Kinsky das Brauchtum der Region vor, die „vertrackten Tänze“ und Karnevalsmasken aus weißem Papier, die von der Fiedel begleiteten Lieder und Gesänge, die von Slowenien her das Tal mitgeprägt haben und etwa die Riba Faronika besingen, jene mythische Meerjungfrau, deren Fischschwanz mit einem Schlag Überschwemmungen auslösen oder das Meer teilen kann.
Kann Literatur einen Weltausschnitt als Ganzes, in seiner Totalität erfassen? Kann sie etwa durch „dichte Beschreibung“ – ein Begriff des Ethnografen Clifford Geertz – so etwas wie eine Schöpfung zweiter Ordnung werden? Die im Rheinland geborene und inzwischen im Friaul wahlbeheimatete Esther Kinsky beschäftigt sich schon länger mit eigenen Formen des Nature Writings und hat etwa dem Fluss Tagliamento 2020 ein eigenes Buch gewidmet. In „Rombo“, das bereits vor seinem Erscheinen mit dem W.-G.-Sebald-Preis ausgezeichnet wurde, kombiniert die Autorin verschiedene mimetische Verfahren. Am nacktesten zeigt es sich vielleicht unter der wiederkehrenden Überschrift „Fundstück“, wo Kinsky verschiedene alte Fotografien beschreibt, sowohl was das Abgebildete (Bewohner, Gebäude, Landschaften des Friaul), als auch was die Materialität der Abbildung selbst betrifft (Schlieren, Verfärbungen, Beschriftung). Obendrein erzählt sie, ebenfalls in kurzen Abschnitten, die technischen Geschichte der Fotografie.
Aber auch die einen schlichten O-Ton nachahmenden Ich-Erzählungen oder die präzisen Landschafts- und Naturbeschreibungen scheinen möglichst dicht an der Wirklichkeit bleiben zu wollen. Die zerklüftete, ausschweifende Struktur des Romans bildet die vom Erdbeben versehrte Welt ab. Würde Kinsky zeichnen, sähen einzelne Bilder vielleicht fast fotografisch aus oder wie eine Collage aus Fotografien unterschiedlicher Provenienz. Ihr Schreiben verzichtet weitgehend auf eigene Wortschöpfungen und Metaphern, scheint selbst oft einen Bildausschnitt möglichst systematisch zu erfassen. Und doch beschreibt Kinsky ihre Poetik selbst am treffendsten mit Olgas Betrachtungen zur friaulischen Musik: „Die Wörter waren nicht wichtig. Wichtig war nur die Stimme. Der Ton. Bis man nicht mehr wusste, was die eigene Stimme im Chor war. Die Melodien waren weder traurig noch fröhlich, eher klagend und trotzdem irgendwie gleichmütig. So als hätte man etwas verloren oder als sei etwas verschwunden oder zerbrochen und nie wieder aufzufinden oder ganz zu machen, aber man konnte nur darüber singen, ändern konnte man sowieso nichts.“
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