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Kestner setzt auf Gesellschaft

Hannovers Haus für zeitgenössische Kunst hat sich unter der Leitung von Adam Budak politisiert: Fernab von Agit-Prop drängt es in die Öffentlichkeit und öffnet sich für Zu­falls­be­su­che­r:in­nen

Von Bettina Maria Brosowsky

Ein Banner in den Farben der Ukraine weht auf dem Vorplatz der Kestner-Gesellschaft in Hannover. Die zyklisch wechselnde Lichtinstallation auf der Fassade stammt aktuell von der 2003 gegründeten Leipziger Gruppe FAMED. Sie beschwört mit der kreisförmigen Neonröhreninstallation „Until the End of the Circle“ das Potenzial noch unerfüllter Träume.

Diese Botschaft erhält jetzt eine zeitliche Koinzidenz von beklemmender Qualität. Aber sie scheint auch den politischen Instinkt der Institution unter Beweis stellen zu wollen, der sich seit November 2020 unter der künstlerischen Direktion des gebürtigen Polen Adam Budak glaubwürdig substanziiert hat. Und das unterstreichen auch die gleich drei aktuellen Ausstellungen.

Budak hat das Haus im Laufe des vergangenen Jahrs komplett umgekrempelt. Mit der Grüninstallation „A Fragment of Eden“ von Malte Taffner, einer Blumenwiese unter einem großen Stadtbaum auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hat er seinen Wirkradius in den öffentlichen Raum verlängert. Im Gegenzug ist das Innere öffentlicher geworden: Die improvisierte „Kestner Cinémathèque“ im Erdgeschoss zeigt Filme, die ausstellende Künst­le­r:in­nen empfehlen.

Das Buchhandelsangebot, ebenfalls im Erdgeschoss, ist durch ein Antiquariat um vergriffene philosophische Titel erweitert worden, und im oberen Foyer gibt es eine nach Gertrude Steins berühmter Prosagedicht-Sammlung „Tender Buttons“ benannte Kaffeebar. Ein farbintensives großformatiges Gemälde, eine „Seelenlandschaft“ der Südkoreanerin Jongsuk Yoon, ziert den Lichtgraben, der Kaffeebar und Erdgeschoss verbindet. Das alles steht ohne Eintrittskarte zur Verfügung.

Helen Cammock verlangt von denBe­trach­te­r:in­nen „disziplinierte Aufmerksamkeit“

Die erste, dann kostenpflichtige, Ausstellung im Erdgeschoss empfängt mit düsterer Stimmung. Aber auch das zentrale Anliegen, um das es dem multimedial arbeitenden Künstler Mathieu Kleyebe Abonnenc geht, ist von dieser Art: das Trauma, das bis heute das Leben in den ehemaligen Kolonien prägt. Abonnenc, 1977 im außereuropäischen Departement Französisch-Guyana geboren, war als 15-Jähriger ins „Mutterland“ gekommen. Dort hat er, mit Stücken der Sammlung seines Großvaters und ausdrücklich im Rückgriff auf den Anthropologen Michel Leiris eine Methode künstlerisch ethnografischer Recherche entwickelt.

Zu postkolonialen Ressourcenausbeutungen und ihren ökologischen Verwüstungen erfindet er Bilder aus Objektarrangements: schwarzverwitterte Alltagsgegenstände wie Fundstücke archaischer Kulturen oder der Panzer einer toten Schildkröte, der mit einer Spur Gallium ausgegossen ist. Das seltene Halbmetall wird für viele technische Gerätschaften benötigt.

Der Projektraum im Erdgeschoss widmet sich den feinen Text- und Objektarbeiten des Schweizers Vittorio Santoro, der mit seiner implizit politischen Kunst an der Oberfläche eines gesellschaftlichen Konformismus, auch einer Cancel Culture des Kulturbetriebs, kratzen möchte.

Mit der 1970 geborenen Britin Helen Cammock hat Budak für die Hauptausstellung im Obergeschoss des Hauses eine Künstlerin eingeladen, die ebenfalls keine platte Politkunst anbietet. Sondern ganz im Gegenteil: In ihrer Arbeit verschränken sich unterschiedliche Medien – Grafik, In-situ-Realisationen, Video, Aktion – und formulieren so feinsinnige, individuelle Denkanstöße. Cammock verlangt von den Be­trach­te­r:in­nen „disziplinierte Aufmerksamkeit“. Ihr geht es im weitesten Sinne um ein Zusammenwirken von Idee und Gefühl, von Imaginärem mit dem Realen oder dem als real Wahrgenommenen, auch um die Einheit körperlichen Empfindens mit seiner natürlichen Umgebung.

Drei Filmarbeiten von ihr werden in Hannover gezeigt. Eine davon, „Changing Room“, hat Cammock im Jahr 2014 dem Leben ihres Vaters gewidmet. Auf Jamaika geboren, ging George Cammock in die britischen Streitkräfte, um für die Queen zu kämpfen. Sein Enthusiasmus und sein Integrationswille wurden jedoch nicht gewürdigt. Schließlich verbitterte er, auch über sein eigenes Scheitern. Aber er war künstlerisch tätig, zeichnete, malte seine Familie und formte kleine Tierplastiken aus Ton. Einige davon sind in die Ausstellung integriert: ein schwarzer Stier oder ein mehrfarbig glasiertes Okapi auf staksigen Beinen.

Die den physischen Charakter des jeweiligen Tieres ungemein treffenden Keramiken fungieren als Vermittler im Dialog zwischen Vater und Tochter, etwa in der Frage, was professionelle Kunst ist und wer sich Künst­le­r:in nennen darf. Es spannt sich aber auch ein größerer Bogen, hin zu Identitätsbildungen und dem marginalisierten Schwarzsein in einer weißen Mehrheitsgesellschaft, selbst wenn sie, wie die britische, auch über Erfahrung im post- und dekolonialen Diskurs verfügt. Es sind solcherart Verwicklungen, die uns verbinden und die uns zerreißen, so Helen Cammock: „Nichts kann geändert werden, wenn es nicht gesehen wird.“

Helen Cammock: „Behind the eye is the promise of rain“; Mathieu Kleyebe Abonnenc: „The Music of Living Landscapes“; Vittorio Santoro: „Rhinocéros/Bérenger“: bis 22. 5., Hannover, Kestner Gesellschaft

Gespräch mit Mathieu Kleyebe Abonnenc: Do., 31. 3., 18.30 Uhr

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