piwik no script img

Weg mit den Besitzansprüchen!

Ewelina Marciniak, Regisseurin aus Polen, inszeniert den „Werther“ am Deutschen Theater und räumt mit dem Männerschmerz auf

Von Katja Kollmann

Wohltemperiert ist diese Inszenierung nicht. Gerade noch erfreut man sich an der Goethe’schen Prosa, um dann das komplett abgenutzte Wort „Love“, umrahmt von Bruchenglisch, ertragen zu müssen. Erwartungshaltungen von Anfang an nicht zu erfüllen, das hat hier Methode. Aber nicht als Selbstzweck, sondern als Konsequenz einer ernsthaften Befragung von des Geheimrats frühem Sturm-und-Drang-Bestseller „Die Leiden des jungen Werther“.

Die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak inszeniert das erste Mal am Deutschen Theater. Beim Theatertreffen im Mai werden wir in Berlin ihre Mannheimer Inszenierung der „Jungfrau von Orleans“ sehen können. Marciniak nähert sich beiden Klassikern auf ihre Weise, sie lässt den Originaltext von polnischen AutorInnen bearbeiten und ergänzen, um ihn dann von dem genialen Literaturübersetzer Olaf Kühl ins Deutsche übertragen zu lassen.

Werther aber sagt erst mal eine ganze Weile gar nichts. In vielen Grautönen blicken seine Augen übergroß von der Bühnenrückwand ins Nirgendwo. Er hält sich die Pistole an die Schläfe, schaut und leidet, bis er abdrückt. Lotte steht auf der Bühne und sieht ihm dabei zu. Dann „zurück auf Los“: Werther und Lotte leben im Hier und Jetzt, irgendwie aber auch im späten 18. Jahrhundert. Fliegender Wechsel zwischen den Zeiten, ausgelöst durch das ständige Springen von Goethe-Zitat zur heutigen Umgangssprache. Abrupte Übergänge zwischen den Szenen, die sich lose aneinanderreihen.

Das fordert den, der zuschaut, aber erst recht die, die spielen. Und dann eine neue Mehrstimmigkeit, die es so bei Goethe nicht gibt: Albert, Lottes Verlobter, und Wilhelm, Werthers Freund, bekommen ein Gesicht und eine Stimme, die sie in Goethes Briefroman nicht haben. So können sie ihren Standpunkt bezüglich der Sachlage Werther/Lotte offensiv vertreten. Das führt unter anderem zu einem witzigen Sportwettstreit zwischen Albert und Werther, der auf einem großen Rechteck aus Schaumstoffmatrazen ausgetragen wird auf der Bühne, die Mirek Kaczmarek eingerichtet hat.

Paul Grills Albert nervt wahnsinnig mit seiner saturierten Selbstzufriedenheit. Der aus seiner Sicht überspannte Werther aber kratzt immer mehr an seiner komfortablen Gefühlslage. Thorsten Hierse gibt den Wilhelm im psychedelisch flimmernden Anzug. Oft sitzt er am Bühnenrand und meditiert, um plötzlich mit einer wie aus einer anderen Welt stammenden Stimme in das Bühnengeschehen einzugreifen. Bis zuletzt versucht er zu verhindern, dass ihm dieser Werther, sein einziger Freund, abhandenkommt.

Marcel Kohler, mit beinahe zwei Metern Körpergröße der Riese unter den DT-Schauspielern, ist Werther. Sein Werther ist oft wunderbar verspielt. So lässt ihn Ewelina Marciniak einen der kurzen Glücksmomente feiern, indem er wie ein Kind auf dem Matrazenstapel hin und her springt.

Regine Zimmermanns Lotte ist auf keinen Fall naiv, eher nüchtern. Ihre Stimme zerreißt die Bühnenluft und auch Alberts Herz, was sie nicht bemerkt. So kniet Marcel Kohlers Werther, als er nicht mehr kann, neben all den Dingen, die ihm in seiner Beziehung zu Lotte wichtig waren, und fragt sie das letzte Mal: „Ja oder nein?“ – verzweifelte Hoffnung in Augen und Stimme. Regine Zimmermanns Lotte redet sich wieder heraus, um dann das undefinierbare Riesen-Stoff-Etwas, das seit Anfang der Vorstellung auf der Bühne herumliegt, in eine Form zu bringen, sich darauf zu schmeißen und zum Befreiungsschlag auszuholen. Weg mit den Besitzansprüchen, die machen nämlich alles kaputt, ist ihr Fazit. Eine geniale Radikalwendung der Stück-Dramaturgie kurz vor Schluss. Lotte: das Subjekt. Endlich.

Wieder am 16./19. März, 6./17./24. April im Deutschen Theater

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen