: Die Leben dahinter
Thomas Sparr zeichnet die Fluchtlinie Budapest–Berlin entlang der historischen Umbrüche als deutsch-jüdische Geistesgeschichte nach
Thomas Sparr: „Hotel Budapest, Berlin …“ Berenberg Verlag, Berlin 2021, 208 Seiten, 24 Euro
Von Jörg Später
Franz Fühmann stellte einmal fest, das intellektuelle Ungarn, vor allem Budapest, habe immer eine Affinität zu Berlin verspürt, nicht zu Wien – zum kritischen Geist der Stadt, zur künstlerischen Gnadenlosigkeit. Berlin war ab den 1920ern wie zuvor Paris der lockende Westen – das sagt nun Thomas Sparr, Editor-at-large im Suhrkamp Verlag.
Sparr entdeckte 1978 als Student Peter Szondis „Theorie des modernen Dramas“ und lernte ein Jahr später Ivan Nagel kennen, der damals Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg war. Beide stammten aus Budapest. Nagel erzählte ihm, wie er und Szondi im Frühsommer 1944 nach dem Einmarsch der Deutschen kurzzeitig verhaftet worden waren. Und dass er den Freitod des Freundes 1971 nicht verkraften könne. Dass zwischen beiden Ereignissen, Verhaftung und Suizid, ein Zusammenhang besteht, ist Sparr erst viel später bewusst geworden. Das mag ein Anlass für dieses Buch über die ungarisch-deutsche Connection in Sachen Kultur und Literatur gewesen sein.
Neben Nagel und Szondi gibt es weitere illustre Hauptdarsteller. Allen voran natürlich Georg Lukács und die anderen aus dem berühmt-berüchtigten Budapester Sonntagskreis, die nach dem Zusammenbruch der Räterepublik Stadt und Land fluchtartig verließen: der Dichter und Pionier der Filmtheorie Béla Balász, die Psychoanalytikerin Edit Gyömrői, der freischwebende Soziologe Karl Mannheim, der vergessene Sozialhistoriker von Kunst und Literatur Arnold Hauser. Die Intellektuellen um Lukács, meist mit jüdischem Familienhintergrund, waren Metaphysiker, die wissen wollten, was in der Welt schiefläuft. Der Sonntagskreis bildet das Zentrum des ersten Teils des Buches. In Budapest zerbrach mit der Flucht ein Krug, dessen Scherben sich europaweit verteilten, vorwiegend aber in Berlin konzentrierten. Nach den Russen bildeten die Ungarn dort die zweitgrößte Emigrantenschar der 1920er Jahre.
Der zweite Teil ist denen gewidmet, die den deutschen Einmarsch in Budapest am 19. März 1944 überlebten, obwohl innerhalb von zwei Monaten 450.000 Juden und Jüdinnen nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Die Philosophin und Lukács-Schülerin Ágnes Heller gehört dazu, der Schriftsteller György Konrad. Szondi konnte mit dem sogenannten Kasztner-Zug entkommen, nachdem Rezső Kasztner die SS bestochen hatte. Nagel gelang es, mit falschem Namen unterzutauchen. Er verließ Budapest erst 1948 wegen der Stalinisierung der Kommunisten unter Rákosi. Heller kehrte zurück, floh jedoch 1977.
Im Jahr 1956 nach der Niederschlagung des Aufstands folgte dann die dritte Fluchtwelle aus Budapest. Währenddessen gingen Nagel und Szondi ihren von Adorno unterstützten Weg in Westdeutschland – durchaus erfolgreich, bis Szondi, der sich als „self-displaced-person“ bezeichnete, das Überleben nicht mehr aushielt und sich 1971 im Berliner Halensee tötete. Sparrs Porträt dieser beiden Juden aus Budapest ist besonders liebevoll geraten und voller Bewunderung.
Nach 1989, nachdem Ungarn als erstes Land des Ostblocks seine Grenzen geöffnet hatte, waren die Reisen von Budapest nach Berlin dann zwanglos. Imre Kertész wurde Wahl-Berliner, denn heimatlos zu sein sei in der Fremde weniger schlimm als zu Hause. Überhaupt legten gerne Schriftsteller die Zugstrecke von 687 km zurück: Péter Nadas, Péter Esterhazy, György Konrad, György Dalos, Terézia Mora und viele mehr. Der Abspann des Films Budapest Berlin dauert lang. Die Tradition sorgt für immer neue Zuwanderung.
Thomas Sparr hat ein Gespür für die kleinen und großen Dramen der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte. Mit leichter Hand rekonstruiert er sie. Ob es die Grunewalder Intelligenz in Jerusalem ist, die „Biographie“ von Celans „Todesfuge“ oder wie hier die Lebens- und Todesgeschichten der Budapester Juden – er erzählt bedächtig, sorgfältig, feinsinnig. Sparr präsentiert keine Konstellationen, die dem Material eine Erkenntnis herauspressen, sondern lose, wenngleich stringente Impressionen, die Schlaglichter auf Literatur und Leid, Kunst und Verbrechen, Philosophie und Soziologie inmitten der mörderischen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts werfen – hier aus dem Blickwinkel der Budapest-Berlin-Connection. Ein beeindruckender Essay, eine Hungarian Rhapsody!
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