: Von Nazis und anderen Halunken
Kerstin Ehmers Krimis über Berlin in den Roaring Twenties sind brillante Unterhaltungsliteratur mit gut recherchiertem Wissen. Diese Woche wird der dritte Band der Reihe erscheinen
Von Katharina Granzin
Das Bild, das wir vom Berlin der 20er Jahre haben, ist mittlerweile stark von der erfolgreichen TV-Serie „Babylon Berlin“ beeinflusst, die auf den Romanen von Volker Kutscher basiert. Wer aber denkt, dass die Epoche damit für das Krimigenre ausgeschöpft sei, irrt ganz gewaltig. Denn es gibt ja auch die 20er-Jahre-Krimis von Kerstin Ehmer. Und die haben ihren ganz eigenen Sound und ihre eigene Sichtweise auf eine Zeit, in der so vieles möglich schien und die verschiedenen Aufbruchstimmungen nur so brodelten, aber gleichzeitig die Gesellschaft gespalten war wie nie.
Kerstin Ehmer, die mit ihrem Mann die Victoria-Bar in der Potsdamer Straße betreibt, hat vor ein paar Jahren ein viel besprochenes Buch über Alkohol veröffentlicht. Erst danach wurde sie auch zur Krimiautorin: Ihr erster Roman, „Der weiße Affe“, mit Kommissar Ariel Spiro als Hauptfigur erschien 2017. „Der blonde Hund“, Ehmers Neuerscheinung, ist schon der dritte Band der Reihe. Allerlei Un- und Unterbewusstes spielt in diesem Roman eine Rolle, Freud lässt grüßen, daneben kommt das Okkulte nicht zu kurz, und die dunkleren Triebe des Menschen werden effektvoll in Szene gesetzt.
Das Ganze beginnt allerdings mit einem herkömmlichen Berlinkrimi-Klischee: einer Leiche, die aus der Spree gefischt wird. Schon in dieser Szene aber, im Auftritt der verschiedenen Polizisten und Passanten, bringt Kerstin Ehmer unauffällig so viel historisch fundiertes Detailwissen unter, dass die Idee vom Klischee umgehend wieder verblasst. Die Szenerie lebt, und dieser Eindruck zieht sich durch. Die Autorin hat nicht nur gründlich recherchiert, sondern sich auch gedanklich intensiv eingelebt in die Zeit der Handlung.
Zwei große Handlungsstränge laufen parallel in diesem Roman, in dem Kommissar Spiro zwischendurch auch heimlich in München ermittelt. Denn der Tote aus dem Berliner Fluss hat für den in der bayerischen Metropole ansässigen Völkischen Beobachter gearbeitet.
Wir schreiben das Jahr 1925, und die Nationalsozialisten treten zunehmend selbstbewusst auf. Nicht nur sind auf den Straßen ihre Schlägertrupps anzutreffen, sondern auch in höchsten gesellschaftlichen Kreisen beginnt sich die Bewegung zu formieren. Als Mittelpunkt der völkischen Szene in Berlin macht Kommissar Spiro die Villa eines angesehenen Pianofabrikanten aus.
Treibende Kraft des anderen Handlungsstrangs ist Spiros Geliebte Nike Fromm, Inbegriff der selbstbewussten „neuen Frau“. Sie ist als Ärztin am Magnus-Hirschfeld-Institut tätig, wo eines Tages ein schwerverletzter junger Mann eingeliefert wird: Eine Sado-Maso-Begegnung ist aus dem Ruder gelaufen. Nike erkennt an der Schwere der Verletzungen, dass der Täter auch über Leichen gehen würde, und beginnt undercover in der Szene für außergewöhnliche sexuelle Vorlieben zu recherchieren. Dabei begibt sie sich in große Gefahr.
Neben diesen beiden quasikriminalistischen Sujets findet noch alles mögliche andere im Roman Platz: Kriegstraumata, Tuberkulose, Übersinnliches und jede Menge Berliner Nachtleben und Stadtkolorit – vom Landkolorit ganz zu schweigen, denn auf seiner Suche nach dem Mörder des Nazi-Journalisten verschlägt es den Kommissar bis in pommersche Sumpflandschaften. Erstaunlicherweise wirkt die Überfülle an Schauplätzen und zeittypischen Phänomenen weder allzu gesucht noch übertrieben (oder jedenfalls nur ein bisschen), sondern wie der adäquate fiktive Spiegel einer Zeit, in der eben wahnsinnig viel in Bewegung war – und man nicht so genau wusste, in welche Richtung es ging.
In puncto „Whodunit“-Spannung mögen Kommissar Spiros Abenteuer vielleicht nicht ganz an die großen Genrevorbilder heranreichen; aber als geistreiche, stilistisch brillante Unterhaltungsromane sind sie definitiv eine Bereicherung für jedes Bücherregal, das was auf sich hält.
Kerstin Ehmer: „Der blonde Hund“. Pendragon Verlag, Bielefeld 2022, 464 S., 18 Euro
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