berliner szenen: Multiple Maskenblindheit
Seit einiger Zeit fällt es mir schwer, die Liste der Inhaltsstoffe zu entziffern. Wie viel Zucker sich im Müsli versteckt, wird zu einer Ameisenstraße. Ich buche einen Termin beim Augenarzt. Als Brillenträger tropfen mir Arzthelferinnen seit meiner Kindheit Pfeilgiftextrakt in die Augen, um meine Dioptrienwerte zu bestimmen. Unweit des Ku’damms wurde eine medizintechnische Assistentin wütend, weil ich reflexartig vor ihrer Pipette zurückzuckte und das kostbare Gift zum wiederholten Mal über meine Wange lief.
Grinsend versicherte mir der Arzt, ich werde erblinden, nicht morgen und nicht übermorgen, räumte er ein, aber das sei unser aller Schicksal im Alter. Meine Erleichterung währte nur kurz.
Seit wir alle Masken tragen, leide ich unter multiplen Formen von Maskenblindheit. Mit dem eingeschränkten Sichtfeld stoße ich gegen Stromkästen oder Einkaufswagen. Hinter beschlagenen Brillengläsern sehe ich nur Schemen. Die schlimmste Form von Maskenblindheit ist, dass ich Bekannte nicht erkenne.
Am Anfang der Pandemie, als man nur unter triftigem Grund rausgehen durfte, begann ich, Supermärkte in den Nachbarbezirken zu besuchen. Nun stehe ich wieder an einem fremden Kühlregal vor dem baskischem Käse, als eine Frau mir in die Augen schaut, die Brauen nach oben zieht, als müsste ich sie grüßen. Dann breitete sie ihre Arme aus. Als all dies nichts nützte, zog sie kurz ihre Maske herunter. Ich deutete eine entschuldigende Verbeugung an. Natürlich! Frau K., eine ehemalige Nachbarin.
Bist du jetzt auch umgezogen?, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. Ich sei nur ab und zu hier. In der ersten Welle hätte ich in dem Laden einmal Hefe aufgetrieben. Sie lachte: Ich backe auch, aber mit Sauerteig! Du bist ein Profi, attestierte ich ihr. Timo Berger
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