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: Körper und Seelen sind verschnürt

„Ammonite“ (GB 2020, Regie: Francis Lee). Die DVD ist ab rund 12 Euro im Handel erhältlich.

Mary Anning, die Heldin des Films (Kate Winslet), hat real existiert, von 1799 bis 1847. Sie war zu ihrer Zeit unter Geologen eine bekannte Figur, lebte in Dorset, an der südwestenglischen Küste, als Kind schon am Meer unterwegs. Mit zwölf machte sie an den Klippen von Lyme Regis einen Fund, die Fossilien eines Ichthyosaurus: Es war der Erste seiner Art, auf den die Fachkreise in London aufmerksam wurden.

Als Frau konnte Anning nicht Mitglied der wissenschaftlichen Gesellschaften werden. So verdiente sie ihr Geld, mehr schlecht als recht, mit dem Verkaufen ihrer Fossilienfunde, von Belemniten und Ammoniten vor allem, daher nimmt der Film seinen Titel, „Ammonite“. Der Titel ist auch Metapher, denn als versteinerte Frau erscheint Mary Anning, jedenfalls zu Beginn.

Auch Charlotte Murchison, im Film von Saoirse Ronan verkörpert, hat existiert. Sie war, wie im Film, die Frau des Geologen Roderick Murchison, selbst an Paläontologie interessiert, sie lebten in London und waren in der ganzen Welt unterwegs. Allerdings war Murchison elf Jahre älter als Anning, mit der Besetzung von Winslet und Ronan wird diese Altersdifferenz umgedreht. Alles, was Francis Lee (Drehbuch und Regie) über die Annäherung der beiden erzählt, ist völlig fiktiv.

Düster ist Dorset, von Wind und Wetter umtost. Kate Winslets Züge, Bewegungen sind entschlossen, aber auch starr und verhärtet. Monatelang hat sie sich, liest man, in die Figur, auch den von ihr gesprochenen Dialekt, hineingearbeitet: Sie verkörpert nun voll und ganz das Bild, das sie von Anning hat.

Die Brandung, der Sturm, die Natur als Geräusch bekommen prominenten Platz auf der Tonspur, da lauert ein harter Kontrast von Natur und Zivilisation, der später bei einem Konzert auch nachdrücklich ausgeführt wird. Anning lebt an diesem Außenposten mit ihrer Mutter in bescheidenen Räumen, man sieht sie beim Suchen, beim Säubern der Funde, man sieht ihre roten, verwundeten Finger mit Schmutz unter den Nägeln.

Charlotte Murchison kommt zunächst als Begleiterin ihres Mannes nach Dorset. Auch sie ist umdüstert, freudlos, so depressiv, dass der Gatte sie bei Anning zurücklässt. Wo nun die, wie gesagt, frei erfundene Annäherung der beiden beginnt. Überm Suchen und Finden an der brandenden Küste, beim Säubern und Zeichnen, Hände an Händen und Mund näher und näher an Mund. Sie erwachen, ja erblühen, was Ammoniten kaum widerfährt, zu neuem Leben. Das ist und bleibt ohne jeden Überschwang, mit großer Zurückhaltung inszeniert; die Klassendifferenz zwischen den beiden bleibt immer präsent. Es sind nicht nur die Körper, es sind auch die Seelen verschnürt. Und werden in einer großen Sexszene, wenngleich vielleicht nicht vollends, befreit. Kate Winslet hat berichtet, sie habe die Szene, gemeinsam mit Ronan, im Wesentlichen selbst choreografiert; die Tatsache und ihr Stolz darauf, dass ihr nicht mehr ganz junger Körper darin so zu sehen ist, wie er nun einmal ist, haben es in die Schlagzeilen der Film- und Klatschpresse gebracht. Dass das betonenswert scheint, ist wiederum traurig genug. Auch interessant: Während der Film in Deutschland ab zwölf Jahren freigegeben ist, hat ihm die Motion Picture Association in den USA die Jugendfreigabe verweigert.

Das ambivalente Ende, das Francis Lee sich ausgedacht hat, ist so genau überlegt wie alles im Film. Es bleibt nur hier wie insgesamt die Frage, ob „Ammonite“ das präzise Porträt einer Versteinerung ist, oder ob nicht eine Form inszenatorischer Versteinerung den Film selbst mehr lähmt, als ihm guttut.

Ekkehard Knörer