piwik no script img

Vier Tode in Venedig

Selbstzerstörerische Leidenschaft in Zeiten der Seuche: Am Hamburger Thalia Gaußstraße lässt Regisseur Bastian Kraft Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ von vier Versionen des Autors erzählen – und diese von Frauen spielen

Von Katrin Ullmann

Thomas? So soll er auf keinen Fall heißen. Darin sind sie sich alle einig. Dann vielleicht Friedrich? Sie zögern, überlegen. Besser: Gustav. In grau gestreiften Anzügen, mit Weste und Einstecktuch betreten sie die Bühne. Mit gemessenen, ruhigen Schritten. Mit streng gescheitelten Haaren, mit runden, dünnrandigen Brillen und geschniegelten Schnäuzern. Die eine steckt sich eine Zigarre ins Gesicht, die andere schiebt ihre Hand in die Hosentasche, die dritte pfeift selbstzufrieden vor sich hin, die vierte richtet achtsam ihr Jackett. So unterschiedlich ihre Gesten sind, so unterschiedlich ist auch ihre Statur, und doch sind sie alle – Sandra Flubacher, Karin Neuhäuser, Oda Thormeyer und Victoria Trauttmansdorff – an diesem Abend Thomas Mann. Mal mehr und auch mal weniger.

Schlendernd – so lässig das einer, der die Bügelfalte zum Kunstprinzip erhoben hat (wie sein Zeitgenosse Alfred Döblin bemerkte), es überhaupt kann – betreten sie die Bühne und denken halblaut nach. Darüber, wie sie ihre nächste Hauptfigur nennen wollen, was diese ersehnen und durchleben soll. Und wann, warum und wo. Dabei fallen sie sich gegenseitig ins Wort, korrigieren einander, verbessern Satzbau und Wortwendungen. So entstehen Auslassungspunkte genauso wie adjektivische Genauigkeiten, so entwickeln sich Charaktereigenschaften und eine Figurenbiografie, summieren sich Anspielungen und Absichten.

Nur Thomas sollte die Hauptfigur auf keinen Fall heißen, denn Ähnlichkeiten mit dem Autor sind rein gar nicht beabsichtigt. Karin Neuhäusers Schriftstellerfigur weist die Vermischung von Kunst und Person entschieden von sich, bevor sie später manch andere Formulierung herrlich eitel kommentiert mit: „Das könnte von mir sein.“ Natürlich wird Manns „Der Tod in Venedig“ gelesen, das neben „Tonio Kröger“ als dessen persönlichstes Werk gilt. 1911 entstanden, nannte der Schriftsteller selbst die Novelle eine „Tragödie der Entwürdigung“. Jahrzehnte später bezeichnete er sie sogar als „sonderbare moralische Selbstzüchtigung durch ein Buch“.

Und so ist es nicht nur klug, schlüssig, sondern auch herrlich erheiternd, dass der Regisseur Bastian Kraft für seine Inszenierung den (vierfach multiplizierten) Autor Thomas Mann auf die Bühne treten lässt, um diesen selbst die Geschichte jenes Gustav von Aschenbach erzählen zu lassen. Dieser, bis dahin auf „Leistung verpflichtete“ Schriftsteller verfällt darin während eines Urlaubs im schwülwarmen Venedig mehr und mehr der für ihn vollkommenen Schönheit eines gewissen Tadzio.

„Der Tod in Venedig“: nächste Aufführungen So, 16. 1., 19 Uhr, und Do, 10. 2., 20 Uhr, Hamburg, Thalia Gaußstraße

Gerade einmal 14 Jahre alt ist Tadzio, während Aschenbach sich mit über 50 bereits auf dem Weg zu Alter, Verfall und damit zum Tod befindet. War bisher „Durchhalten“ eines seiner Lieblingswörter und gestattete er sich Reisen nur aus „hygienischen Gründen“, so wird der Aufenthalt am Ende nicht nur seine homoerotischen Gefühle wecken, sondern auch in den Tod führen. Denn dort wartet nicht nur die (Fern-)Begegnung mit Tadzio auf ihn. Es wütet auch die Cholera.

Frontal angeleuchtet werfen die vier allesamt großartigen Darstellerinnen immerzu konturscharfe Schattenrisse auf eine hintere Projektionsfläche. Zu diesen gruppieren sich dann ab und an noch vorproduzierte Schattenspiele: Und so steigt eine Darstellerin dann etwa in die schattenhaft heranfahrende Gondel oder fügt sich ein in die Schattenriss-Szenerie der Hotellobby, in den scheinbar belebten Frühstückssaal oder unter den einsamen Sonnenschirm am Strand.

Angenehm unaufgeregt beleben diese ästhetischen Video-Einspielungen von Jonas Link das Geschehen, geben den Spielerinnen den Kontext, den sie gerade behaupten (oder entwickeln). Zwischendurch reisen auch mal ganze Wörter vorbei, fungieren Buchstaben als Tische oder Stühle, werden kleine Ts zu schlichten Grabkreuzen.

Die strenge Schwarz-Weiß-Form prägt vor allem den ersten Teil des Abends und referiert auf Schreibmaschine und Papier. Doch ist der Erzählprozess erst mal in Gang gesetzt, hören die vier Mann-Darstellerinnen bald auf zu diskutieren, tauchen selbst ein in die von ihnen erdachte Geschichte. Dann begegnen ihnen die weiteren Figuren als großformatige, grotesk überzeichnete Videofratzen, für die sie dann das jeweilige Voiceover sprechen. Was kompliziert und vor allem technisch arrangiert klingt, wirkt auf der Bühne meist organisch und gibt dem Geschehen eine schräge, surreale Dimension. Ein Effekt, in etwa so, wie er bei den längst legendären Aufführungen des tschechischen „Laterna magica“-Theaters entsteht.

Video-Einspielungen geben den Spielerinnen den Kontext. Zwischendurch reisen ganze Wörter vorbei, fungieren Buchstaben als Tische oder Stühle, werden kleine Ts zu Grabkreuzen

Mit meist reduzierten Gesten agieren die Darstellerinnen, steigen nur kurzzeitig voller Pathos ein in diese schwärmerische, einseitige Liebe, bevor sie sich im nächsten Augenblick verlegen räuspern und die empfindsame Künstlerseele ironisch kommentieren.

Victoria von Trauttmansdorff spielt schließlich den jungen Tadzio, spielt ihn im Matrosenanzug mit genau gesetzten Bewegungen und dramatischen Posen. Von den anderen sehnsuchtsvoll betrachtet, wirkt ihr Haar jetzt plötzlich honigfarben, ihr zarter Körper „apollinisch“, bevor die Darstellerinnen vom gerade noch verliebt-schwärmerischen Tonfall ins fragend Nüchterne wechseln und ihre Beobachtungen über merkwürdige Gerüche nach Fäulnis und Desinfektionsmittel teilen oder sie sich wie Caravaggios „Narziss“ selbstverliebt im mit Wasser vollrinnenden Bühnenboden spiegeln.

Zurecht baut und vertraut Bastian Kraft auf die Mann’sche Sprache. Durch die rein weibliche Besetzung erhält sie dabei zusätzlich etwas Weiches, fast Brüchiges, wird die Perspektive des Schriftstellers gewissermaßen doppelt entlarvt. Kraft gelingt ein dichter, streckenweise echt amüsanter und sehr atmosphärischer Abend, der vielleicht einmal zu oft die überzeichnet-grotesken Video-Einspielungen nutzt, die schnell illustrativ und kleinteilig werden, wenn sie das Ensemble als morbide Straßenmusik-Band zeigen oder Karin Neuhäuser als übereifrigen Friseur. So verliert sich Kraft leider gegen Ende der Inszenierung, die so zurückhaltend, ironisch und feinsinnig begann, in allzu großen, lauten Bildern und am Schluss dann noch in einem völlig ungebrochen pathetischen Sonnenuntergangsbild. Ach, Gustav, Thomas, nein: Bastian.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen