: Campus im Kuhkaff
Dänemarks Regierung will die Hochschulen im Land dazu zwingen, einen Teil ihrer Studienplätze in die Provinz zu verlegen. An den Unis regt sich jedoch Widerstand – nun könnten die Studienplätze ganz wegfallen
Von Reinhard Wolff
Für Julie Korsgaard wäre es der Traum gewesen: Ihr Studium nur 30 Kilometer von ihrem Wohnort in Jütland entfernt zu absolvieren. „Ich hätte gerne an jedem anderen Ort als ausgerechnet in Kopenhagen studiert“, erzählt sie einer Reporterin des dänischen Rundfunks. Seit der 4. Klasse sei für sie der Berufswunsch klar gewesen: Tierärztin. Doch dieser Studiengang wird in Dänemark bislang nur an einem Ort angeboten, an der Uni in der Hauptstadt. Ab 2025 soll sich das ändern. Dann soll es einen weiteren Studienstandort geben. Ein zweiter Campus der veterinärmedizinischen Fakultät der Uni Kopenhagen soll im jütländischem Foulum öffnen – einer Ortschaft mit weniger als 200 EinwohnerInnen.
So will das die dänische Regierung unter Führung der Sozialdemokraten. Die vier größten Hochschulorte des Landes – Kopenhagen, Aarhus, Odense und Aalborg – sollen fünf bis zehn Prozent der Studienplätze abbauen und sie stattdessen an insgesamt 23 neuen Standorten in kleineren Orten anbieten. Insgesamt sollen auf dem Land dann 2.000 Studienplätze bereitstehen. Damit hofft die Regierung, der wachsenden Kluft zwischen Stadt und Land begegnen zu können.
Dänemark hat 5,8 Millionen EinwohnerInnen auf einer Fläche von nicht ganz Niedersachsen – und acht Universitäten. Erklärtes Ziel der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen ist dennoch: eine „bessere Balance“ im Land schaffen. Sprich: SchulabsolventInnen in ganz Dänemark einen besseren – also näheren – Zugang zur Uni anbieten. Die jetzige Struktur zwinge junge Menschen, die studieren möchten, in die Großstädte zu ziehen. Viele bleiben dort auch nach dem Studium. Was das Landsterben weiter befeuert.
„Näher dran“ heißt das Regierungsvorhaben, das diese Entwicklung umdrehen möchte. Neben dem Bildungssektor soll vor allem auch das Gesundheitssystem zugänglicher für alle DänInnen werden.
Ein sinnvoller Schritt, meint nicht nur die angehende Tierärztin Julie Korsgaard. Gebe es wie in ihrem Fall nur einen möglichen Studienort im Land, stehe man bei der Studienwahl ja vor einer schweren Entscheidung: entweder in eine „ungeliebte“ Großstadt zu ziehen oder den eigenen Berufswunsch aufzugeben. Sie habe 2020 in den sauren Apfel gebissen und ist nach Kopenhagen gezogen, erzählt Korsgaard: „Aber es gibt viele, die ebenso wie ich davon geträumt haben, Tierärztin zu werden, sich das aber abgeschrieben haben, weil die Ausbildung nur in Kopenhagen möglich ist.“ Überhaupt sei es aus ihrer Sicht nicht sonderlich logisch, dass die Veterinärausbildung in Kopenhagen stattfindet, so Korsgaard. Denn da „kann man ja nicht einfach mal mit einem Pferd zur Untersuchung kommen“.
Von den Verlagerungsplänen der Regierung betroffen sind vor allem geisteswissenschaftliche Studiengänge wie Erziehungswissenschaften oder Lehramt. Auch die Ausbildung zum Krankenpfleger soll künftig in kleinen Orten möglich sein. Für die Veterinärmedizin sind in Foulum 90 Studienplätze geplant. Selbst wenn man es da zweifelsohne deutlich näher zur Untersuchung von Pferden und Kühen hat, hält sich die Begeisterung beim Personal der Uni Kopenhagen in Grenzen.
Zumindest 97 der insgesamt knapp 1.000 HochschullehrerInnen halten nachweislich wenig von der Vorstellung, vielleicht bald aus der Hauptstadt in einen Ort mit rund 100 Haushalten in der jütländischen Provinz ziehen zu sollen. In einem bereits vor ein paar Monaten veröffentlichten Protestbrief gegen die Pläne sprechen sie von einer „Katastrophe“ und warnen vor der „Zerstörung einer fast 250 Jahre alten veterinärmedizinischen Tradition“. Neben dem Abbau von Studienplätzen in Kopenhagen müsse man sich künftig auch das Budget mit dem neuen Standort teilen.
Nicht nur die betroffenen Institute sind angesäuert wegen des „Näher dran“-Projektes. Auch die HochschulleiterInnen kritisieren, dass die Regierung ihr Vorhaben nicht ausreichend mit ihnen abgestimmt habe. „Entstanden hinter verschlossenen Türen“, schimpft etwa Anders Bjarklev, Rektor der Technischen Universität Dänemark und Vorstand des Rektorkollegiums dänischer Universitäten: „Und es ist gar nicht smart, die nicht einzubeziehen, die direkt betroffen sind.“
Anders Bjarklev, Rektor der Technischen Universität Dänemark
Einfach ignorieren lässt sich der Regierungswunsch jedoch nicht. Setzen die Hochschulen die Pläne nicht um, droht die komplette Streichung jener Plätze, die sie in die Provinz verlegen sollen, verbunden mit entsprechenden Budgetkürzungen. Das stellt die Hochschulen vor ein Dilemma: Gelder wollen sie keine verlieren. Doch die Einrichtung von Studiengängen an neuen Standorten dürfte trotz staatlicher Finanzspritzen ziemlich teuer kommen.
Einige Universitäten haben schon angekündigt, lieber Studienplätze abzubauen, anstatt diese zu verlagern. Rund 1.600 Studienplätze stehen nach den bisherigen Ankündigungen der Universitäten und Hochschulen deshalb auf der Kippe, rechnete die Tageszeitung Politiken aus. Vergangene Woche hätten die Unis offiziell ihre Pläne vorlegen sollen, wie sie die Vorgaben der Regierung umsetzen wollen. Bislang haben die Unis aber nur grobe Zahlen vorgestellt: „Wir sollen 10 Prozent der Studienplätze verlegen oder streichen“, sagte Bjarklev vom Rektorkollegium. „Grob gerechnet heißt das nun, dass die Hälfte verlegt und die Hälfte leider gestrichen werden wird.“
In manchen Bereichen mache ein dezentraler Neuaufbau von Studiengängen durchaus Sinn, so Bjarklev. In anderen sei er aber wirklichkeitsfremd. So sei es wenig sinnvoll, beispielsweise parallele Laborkapazitäten einzurichten, wenn kaum genügend Finanzmittel für einen Standort vorhanden seien.
Die Süddänische Universität in Odense rechnete vor, dass die von der Regierung gewünschte Jura-Ausbildung in einem neuen Campus in Esbjerg für sie ein Verlustgeschäft zu werden droht – und fordert mehr Geld von der Regierung: Man benötige eine Erhöhung der Budgetmittel pro Studienplatz um 45 bis 50 Prozent, so die Hochschulleitung. Ansonsten wisse man nicht, mit welchem Personal man für die dort geplanten 50 Studierenden pro Jahrgang einen Lehrbetrieb auf die Beine stellen solle.
Auch der frühere Bildungsminister der rechtsliberalen Partei Venstre, Tommy Ahlers, kritisiert die Reform: Sie sei ein klassisches Beispiel dafür, wie PolitikerInnen glaubten, mit „supereinfachen Mitteln ein Gesellschaftsproblem lösen zu können“, dann aber mehr Schaden als Nutzen anrichteten. Mit Ausnahme der linksliberalen „Radikalen“ hat keine Oppositionspartei dem Konzept der Minderheitsregierung zugestimmt. „Wir sind ein kleines Land und sollten uns nicht einbilden, dass es besser wäre, wenn es Hochschulen an noch mehr Orten gibt“, sagt der Rechtsliberale Ahlers.
Am Ende der Dezentralisierungsreform wird das Hochschulsystem schlechter dastehen als jetzt, befürchten nahezu alle Gewerkschaften und Vertreter von Hochschulbeschäftigten. „Die Wut an den Hochschulen ist so groß wie seit vielen Jahren nicht mehr“, sagt Camilla Gregersen, Vorsitzende der Akademikergewerschaft „DM“: Der Verlagerungsplan sei ein Streichungskatalog unter dem Deckmantel der Regionalisierung, „eine regelrechte Bombe“.
Auch die Studierenden protestieren. Mehrere Studentenorganisationen veröffentlichten am 17. Dezember in der Zeitung Politiken ein Manifest für einen nationalen „Studentenprotest’22“. Der Plan sei nur ein weiteres Kapitel „einer seit Langem gescheiterten Bildungspolitik, bei der Studierende nur noch auf Zahlen in einer Tabelle reduziert werden“, heißt es darin. Man wolle aber nicht länger nur noch für die „kurzfristigen Interessen der Wirtschaft ausgebildet werden, deren oberstes Ziel eine schnelle Gewinngenerierung ist“: „Wir wollen Raum für einen komplexen und kreativen Lernprozess, um uns an der Gestaltung einer besseren Welt zu beteiligen.“
Wie die UnirektorInnen empfinden auch die Studierenden, dass die Hochschulpolitik über die Köpfe der Betroffenen entschieden wird. Deshalb fordern sie ein neues Hochschulgesetz und ein Ende der seit Jahren schrumpfenden Hochschulbudgets. Vor allem fordern die Studierenden, dass die Regierung auf die Umsetzung ihres Verlagerungsplans verzichtet.
„Der Frust bei uns Studenten ist groß“, sagt Morten Levinsen, Student an der Copenhagen Business School und einer der InitiatorInnen des Studentenprotestes: „Die Politiker nennen es Verlagerung, aber in der Praxis sind es Kürzungen, und das Ergebnis ist ein ärmeres und weniger diversifiziertes Bildungssystem.“
Auf die harsche Kritik gibt sich die Regierung demütig. Er habe „großen Respekt vor der engagierten Jugend“, sagte der sozialdemokratische Bildungs- und Forschungsminister Jesper Petersen nach dem Aufruf der StudentInnen – deren Kritik aber teilt er nicht. Die Regierung sei nach wie vor überzeugt, die von ihr gewünschte Dezentralisierung nicht ohne finanzielle Anreize einerseits und mögliche Budgetnachteile für die Unis andererseits durchsetzen zu können.
Ein Hintertürchen hielt sich Petersen aber noch offen: Selbstverständlich werde die Regierung die Meinung der Studierenden und der Hochschulen in den weiteren Prozess mit einfließen lassen.
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