debatte: Ökonomische Monokultur
Wirtschaftsjournalismus ist stark von der Neoklassik geprägt. Für die demokratische Meinungsbildung ist das fatal – aber es regt sich Widerstand
Valentin Sagvosdkin
Jahrgang 1990, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ökonomie der Cusanus-Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz. Die private Hochschule setzt sich laut ihrem Leitbild für Nachhaltigkeit und für eine gerechte und lebensdienliche Wirtschaft ein.
Medien berichten häufig über Wirtschaftspolitik. Dabei dominiert eine Strömung, die bei Ökonom:innen „Neoklassik“ heißt und meist Positionen nahelegt, die auch als „neoliberal“ bezeichnet werden. Es häufen sich Studien, die dieses neoliberale Grundmuster im Wirtschaftsjournalismus belegen.
So untersuchte der Würzburger Professor für Wirtschaftsjournalismus, Kim Otto, gemeinsam mit Kolleg:innen, wie deutsche Leitmedien über Arbeitsmarktpolitik berichten. Sie durchforsteten über 100.000 Artikel aus dem Zeitraum von 1997 bis 2017. Ergebnis: Es dominierten neoklassische Ansichten, vor allem während der Regierungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder, also von 1998 bis 2005. Typische neoklassische Positionen sind etwa, dass die Steuern für Unternehmen zu senken seien und der Arbeitsmarkt „flexibel“ sein müsse. Was das heißt, haben Millionen Beschäftige und Arbeitssuchende zu spüren bekommen: mehr Zeitarbeit, mehr Werkverträge, Hartz IV.
Zu wirtschaftlichen Fragen wird die Expertise (meist männlicher) „Top-Ökonomen“ oder „Experten“ von ausgewählten Forschungsinstituten herangezogen. Sie werden zwar oftmals mit Namen und Institution zitiert – der theoretische Hintergrund ihrer Einschätzung wird aber kaum eingeordnet. Die typisch neoliberale Erzählung geht so: Der Staat ist in Wirtschaftsfragen eher inkompetent. Er sollte dem Markt zwar einen gewissen Rahmen setzen, aber im Sinne der „schwäbischen Hausfrau“ möglichst keine Schulden machen, da diese auf Kosten zukünftiger Generationen gehen würden. Mindestlöhne sollten möglichst niedrig sein, um die Unternehmen nicht zu belasten und Arbeitsplätze nicht zu gefährden. Klimaschutz funktioniert am besten, indem die Natur mit einem Preisschild versehen wird und wir auf technische Innovationen und Wachstum setzen. Kurz: „Der Markt“ regelt.
Ökonom:innen anderer Strömungen sehen das jedoch anders: So können die Ausgaben des Staates als Investitionen für die Zukunft betrachtet werden. Mindestlöhne gefährden keine Arbeitsplätze – schließlich werden die Löhne wieder ausgegeben und kommen den Unternehmen dann als Einnahmen zugute. Klimaschutz erfordert ein Umdenken: Statt von einem angeblich einheitlichen Markt zu reden, sollten besser nachhaltige Konzepte von zukunftsfähigen Unternehmungen gefördert werden. Viele Ökonom:innen gehen inzwischen davon aus, dass eine rechtzeitige Begrenzung der Erderhitzung unmöglich ist, wenn die Wirtschaft weiterhin auf Wachstum ausgerichtet ist. Sie haben neue Ansätze entwickelt, die Natur und Wohlstand nicht nur durch die ökonomische Brille des Geldes betrachten. Wirtschaftspolitische Empfehlungen spiegeln also immer bestimmte ökonomische Theorien wider. Im Gewand der ökonomischen Expertise werden wirtschaftspolitische Positionen transportiert, die alles andere als neutral sind. Die Dominanz einer spezifischen Sichtweise ist nicht nur für die demokratische Meinungsbildung fatal. Sie verschärft auch Fehlentwicklungen.
So wurde in der Finanzkrise 2007 medial noch Beruhigungsrhetorik erzeugt, während der Crash schon in vollem Gange war. Neoklassische Ökonomen hatten die Krise schlicht nicht kommen sehen. Mehr noch: Auch im Nachhinein wurde die Krise ganz im Sinne der neoklassischen Auffassung als plötzliches Ereignis von „außerhalb“ erklärt. In der Berichterstattung wurden blumige Umschreibungen wie „Tsunami“, „Erdbeben“ oder „Herzattacke“ verwendet, die nahelegen, dass die Krise Zufall gewesen sei, was zukünftige Regulierungen unnötig mache. Aktuell sieht es nicht besser aus: So zeigt eine Studie von Hendrik Theine und Andrea Grishold von der Wirtschaftsuniversität Wien, dass das Thema Vermögensteuer in deutschen Leitmedien kaum diskutiert wird. Wenn es überhaupt einmal behandelt wird, dürfen sich vor allem jene Ökonomen äußern, die derartige Reformen ablehnen – und dabei vermeintlich neutrale wissenschaftliche Argumente ins Feld führen.
Aber woran liegt es, dass die deutschen Medien oft so einseitig neoliberal argumentieren? Es mangelt schlicht an plural-ökonomischen Inhalten in der (wirtschafts-)journalistischen Ausbildung. Für eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall wurden über 300 Modulbeschreibungen aus 17 Studiengängen von neun Ausbildungsstätten untersucht: 78 Prozent der Inhalte sind neoklassisch geprägt, in den besonders wichtigen Grundlagenveranstaltungen sind es sogar rund 90 Prozent. Angebote zu Themen wie Nachhaltigkeit, Ideen- oder Wirtschaftsgeschichte gibt es zwar gelegentlich, sie machen aber meist weniger als 20 Prozent des Studiums aus. Im Pflichtbereich sind sie fast nirgends vorhanden.
Diese ökonomische Monokultur in der Journalistenausbildung ist kein Zufall. Sie spiegelt die wirtschaftswissenschaftliche Lehre wider, wo weiterhin einseitig die Neoklassik dominiert. Allerdings regt sich inzwischen Widerstand. Studierende haben sich im „Netzwerk Plurale Ökonomik“ zusammengeschlossen; progressive Volkswirt:innen haben die Plattform „Economists4Future“ gegründet und rufen zu einer Reform der ökonomischen Bildung auf: Das Thema Wirtschaft werde realitätsfern vermittelt, als sei sie von quasinatürlichen Gesetzmäßigkeiten und nutzenmaximierenden Akteuren bestimmt.
Inzwischen haben sich immerhin einige Studiengänge mit pluralem Anspruch etabliert, aber sie sind noch nicht mit (wirtschafts-)journalistischen Ausbildungen verzahnt. Journalist:innen müssen nicht jede ökonomische Theorie im Detail kennen, aber Redaktionen sollten vielfältig besetzt sein. Statt wenigen „Top-Ökonomen“ und einer einzigen Theorie-Strömung glauben zu müssen, könnte dann multiperspektivisch über wichtige wirtschaftspolitische Zukunftsfragen diskutiert werden.
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