: Traumatische Krankenbesuche
Zwang und Leichtigkeit begegnen sich in den Zeichnungen von Carol Rama im Gutshaus Steglitz. Weiter kann man der Welt die Zunge nicht rausstrecken, als es die Protagonist:innen ihrer Kunst tun
Von Brigitte Werneburg
Die alte Dame auf dem doppelseitigen Foto ist wohlfrisiert, ihr Haar zu einem Zopf geflochten und um den Kopf gelegt. Die Kappe darüber schmückt eine große Brosche. Ihre Kostümjacke schmeichelt der alten Dame mit einem reizenden Pelzkrägelchen. Kurz, die ganze Person macht einen sehr bürgerlich wohlanständigen Eindruck – malt und zeichnet aber die denkbar unanständigsten Szenen. Die Fotografie zeigt Carol Rama (1918–2015). Sie beschließt den Katalog zur aktuellen Ausstellung im Gutshaus Steglitz.
Ramas erste Einzelausstellung 1945 in der Turiner Galerie Faber wurde noch vor der Eröffnung von der Polizei geschlossen, die ihre Gouachen und Aquarelle mit den weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen sittlich anstößig und der Öffentlichkeit für unzumutbar hielt. Dennoch nahm Carol Rama drei Jahre später an der Biennale von Venedig teil. Inzwischen hatte sich die Autodidaktin der ungegenständlichen Malerei zugewandt. Ihre abstrakten Kompositionen überführte sie in den 1960er Jahren dann in Materialbilder, über eingefügte Objekte und Werkstoffe entstanden ausdrucksstarke Bricolagen und abstrakte Assemblagen.
1980 aber, als mit der Ausstellung „Die andere Hälfte der Avantgarde 1910–1940“ ihr figürliches Frühwerk in all seiner erotischen Drastik bekannt wird, knüpft sie an diese Thematik wieder an, die sie nun in Form von Radierungen ausarbeitet. Ab 1993 entstehen mit Unterstützung des Druckers und Galeristen Franco Masoero umfangreiche Konvolute und im Endergebnis ein bedeutendes Spätwerk. Carol Rama wird jetzt als herausragende Protagonistin der zeitgenössischen Kunst wahrgenommen und 2003 erhält sie auf der Biennale von Venedig den Golden Löwen für ihr Lebenswerk.
Wie bei anderen Künstlerinnen ihrer Generation, man denke an Louise Bourgeois (1918–2010), Maria Lassnig (1919–2014), Yayoi Kusama (1929) oder Frida Kahlo (1907–1954), ist auch ihr Werk stark biografisch geprägt. Die traumatische Erfahrung der Krankenbesuche bei ihrer Mutter sind wohl Auslöser ihres kreativen Ausdrucks: „Um sie zu sehen, ging ich in die Klinik, in die sie eingeliefert war; in dieser Zeit fing ich an, vulgäre Zeichnungen zu machen … und da entstand ein großes Glücksgefühl, weil ich nicht wusste, dass ich in einem Irrenhaus war und die Freiheit, die ich empfand in diesen Menschen mit ihren ausgestreckten Zungen und ihren gespreizten Beinen …“
Genau diese Figuren sind nun in einer Auswahl von Blättern aus verschiedenen Zyklen im Gutshaus Steglitz zu sehen. Weiter kann man die Zungen nicht rausstrecken als die Protagonist*innen auf den Blättern „Le due Lingue/Die beiden Zungen“ (2005), „Lingue/Zungen“ (2005) und „Le Malelingue/Die bösen Zungen “ (1997), weiter kann frau auch nicht die Beine spreizen, als Carol Rama es in ihrer Serie „Cadeau/Geschenk“ (2002) zeigt.
Die Zwanghaftigkeit, die noch immer deutlich in den pornografischen Motiven steckt, ist bestürzend und wenig spräche für die Freiheit, die Rama dabei empfinden möchte, wäre da nicht der elegante selbstsichere Strich, mit dem die Künstlerin die Figuren, Gesichter, Torsi und fragmentierten Körperteile ausführt, wären da nicht die wohlkalkuliert, dabei aber äußerst empfindsam eingesetzte Farbe und die immer überraschende Komposition. Und so überträgt sich die sichtliche Freude und kreative Lust, mit der Carol Rama ihr Thema ins Werk setzt, beim Betrachten der Blätter. Sie erscheinen tatsächlich von großer Leichtigkeit und einer Freiheit des Ausdrucks, die schlicht fasziniert.
Ihr unverschämtes Personal zeichnet sie als wahrhaft edle Prinzessinnen und Prinzen, etwa in „Seduzioni/Verführungen“ (1998). Um jedoch die nuancierten Momente in Carol Ramas Radierungen zu erfahren, muss man nahe an die Blätter im Format der 50 x 35 cm herantreten.Und da fällt auf, dass die Ausstellungsräume des Gutshofs Steglitz für die Präsentation ideal sind. Sie strahlen noch immer die intime Atmosphäre der ehemaligen Wohnräume aus und fördern so die ungenierte Begegnung mit Carol Ramas Fetischen.
Bis 1. Mai, Gutshaus Steglitz, Schlossstraße 48
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen