Eine Anklageschrift

Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, prangert das Versagen rechtsstaatlicher Institutionen im Fall Julian Assange an

Nils Melzer: „Der Fall Julian Assange“. Piper Verlag, München 2021, 336 S., 22 Euro

Von Ralf Nestmeyer

Just am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, hat der britische High Court in einer Berufungsverhandlung verkündet, das Auslieferungsverbot für Julian Assange trotz seines schlechten Gesundheitszustandes aufzuheben. Das bedeutet, er kann an die USA ausgeliefert werden, wo ihm bis zu 175 Jahre Haft drohen.

Durch die Veröffentlichung von geheimen Militärdokumenten hat der Wikileaksgründer 2010 die systematische Folter und weitere Kriegsverbrechen der US-Militärstreitkräfte in Afghanistan sowie im Irak aufgedeckt. Wenige Monate später begannen die Ermittlungen gegen den gebürtigen Australier.

Julian Assange hatte 2012 in der ecuadorianischen Botschaft in London Asyl beantragt und dort fast sieben Jahre als politischer Flüchtling gelebt, bevor er im April 2019 an die englischen Behörden überstellt wurde und seither im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert ist.

Der UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer für Folter hat sich zwei Jahre lang mit den Ermittlungen gegen Julian Assange beschäftigt und immer wieder erfolglos versucht, die verantwortlichen Staaten zur Zusammenarbeit zu bewegen und von den Regierungen gehört zu werden. Da sich Melzer nicht selbst durch Schweigen oder Nichtstun zum Komplizen machen wollte, hat er sich entschlossen, ein Buch über den „Fall Julian Assange“ zu schreiben.

Akribisch hat er Fakten und Hintergründe recherchiert und aufgedeckt, wie die Vergewaltigungsvorwürfe konstruiert wurden, um Assange in Misskredit zu bringen und ihn juristisch verfolgen zu können. Da Melzer Schwedisch spricht, konnte er die Originalunterlagen einsehen und die Vorwürfe gegen Assange als haltlos entkräften.

Vehement prangert Melzer das Versagen demokratischer rechtsstaatlicher Institutionen und die Verletzung der Verfahrensrechte an, so, wenn er die Auslieferungshaft von Assange mit der von Pinochet vergleicht. Während der Ex-Diktator in einer Luxusvilla in England residierte, ist Assange nicht nur wie ein Schwerverbrecher in einer Einzelzelle untergebracht, ihm wurde von Anfang an auch der Zugang zu Zeitungen und Büchern verweigert, selbst seine Prozessunterlagen darf er nicht einsehen. Und dies geschieht mitten in Europa!

Assange lebt seit über neun Jahren in Unfreiheit, seine Haftbedingungen sind menschenunwürdig

Das Buch ist eine einzige Anklageschrift gegen die Verfolgung eines Dissidenten durch die demokratisch verfassten Staaten USA, Großbritannien, Schweden und Ecuador. Allein die Tatsache, dass zu den Verhandlungen nur eine Handvoll Journalisten und Prozessbeobachter Zugang haben, ist unglaublich. Der Prozess findet fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. „Es ist die Geschichte schwerster Justizwillkür in westlichen Demokratien, die sich im Bereich des Menschenrechtsschutzes sonst gerne als Vorzeigestaaten darstellen. […] Es ist die Geschichte eines Mannes, der von uns allen zum Sündenbock gemacht wurde für das Versagen unserer Gesellschaft im Umgang mit Behördenkorruption und staatlich sanktionierten Verbrechen.“

Assange lebt seit über neun Jahren in Unfreiheit, seine Haftbedingungen sind menschenunwürdig. Vor wenigen Tagen wurde berichtet, dass er am 27. Oktober einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, was seine Verlobte Stella Moris auf den extremen Stress zurückführt, dem er durch die Angst vor der Auslieferung ausgesetzt ist, da das Verfahren an diesem Tag wieder aufgenommen worden ist.

Umso wichtiger ist es, dass durch Nils Melzers hartnäckige Recherchen diese schwere Justizwillkür im Gespräch bleibt.

Der Autor ist Vizepräsident des PEN-Zentrum Deutschland und dessen Writers-in-Prison-Beauftragter.