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„Die Mehrheit erscheint mir offen und interessiert “

In Bremerhavens Stadttheater fragt die Inszenierung „Doitscha“, wie Deutsche und Juden heute zusammenleben

Foto: Yvonne Bösel

Peter Hilton Fliegel

1969 in Basel geboren, ist Leiter der Schauspielsparte am Stadttheater Bremerhaven sowie Dramaturg und Verfasser des Stücks „Doitscha“ nach dem gleichnamigen Roman von Adriana Altaras.

Interview Jens Fischer

taz: Statt eines klassischen Theaterstücks kommt bei Ihnen mit „Doitscha“ mal wieder die Bühnenadaption eines viel gelobten Bestsellers auf die Bühne. Warum, Herr Fliegel?

Peter Hilton Fliegel: Die Erzählweise der sehr gut zum Sprechen geeigneten Prosa hat uns beeindruckt. Adriana Altaras lässt nicht nur ihre Hauptfigur Adriana als Ich-Erzählerin zu Wort kommen, auch ihr Mann, ihre Kinder und andere Verwandte sprechen aus der Ich-Perspektive über die Autorin, so entsteht eine doppelbödige, schillernde Situation, die meines Wissens kein anderes Stück zu der verhandelten Frage hat: Wie leben Deutsche und Juden heute zusammen?

Das Stadttheater hat acht Schauspielpremieren in dieser Spielzeit. Warum gehört das deutsch-jüdische Verhältnis zu den Top-8-Themen in Bremerhaven?

Es geht ja nicht nur um die konkrete Geschichte, sondern grundsätzlich darum, wie die Mehrheitsgesellschaft mit ihren Minderheiten lebt. Und wie finden Menschen, die sich zunächst fremd sind, etwas, was sie verbindet.

So aufs Allgemeine heruntergebrochen, ist Relevanz natürlich einfach zu behaupten. Wie sieht es mit Antisemitismus in Bremerhaven aus?

Es gibt eine kleine, überschaubare rechte Szene hier, aber vor allem einen friedlichen religiösen Mischmasch, ich lebe in Lehe, ein Viertel der Bewohner dort sind keine Deutschen oder Christen, aber es gibt im Alltag keine nennenswerten Probleme, sondern große Neugierde aufeinander.

Die Konfliktlinien der Vorlage existieren also in Bremerhaven gar nicht?

Sie führen jedenfalls nicht zu Verhärtung oder Extremismus.

Vom Holocaust bis hin zur Beschneidung reißt die Autorin viele Konflikte an. Nimmt ihre Dramatisierung alle Aspekte mit oder setzt sie vertiefend Schwerpunkte?

Wir haben den Roman deutlich gekürzt, vieles komprimiert und inszenieren die Episoden als Familienaufstellung. Der Fokus liegt auf dem gut spielbaren, klassischen Pubertätskonflikt: Der Sohn lehnt sich in seinem von der Mutter ererbten Jüdischsein gegen den Vater auf, einen westfälischen Katholiken.

Das bringt das verletzliche deutsch-jüdische Verhältnis auf den Punkt, ist es doch von Neurosen, Vorwürfen, Ängsten gekennzeichnet. Aber wie können Juden und Deutsche einfach zusammenleben, ohne die Toten zu vergessen?

Wenn sie das gemeinsame Erbe, den Holocaust, als Verpflichtung zum andauernden Gespräch verstehen.

Können Sie mit „Doitscha“ deutlich machen, dass es jenseits von Schlussstrichziehen oder Gedenkzwang und ritueller Erinnerungskultur noch einen dritten Weg gibt?

Altaras verweist in ihrer im Roman enthaltenen Paulskirchenrede von 2011 auf den Holocaust-Gedenktag in Israel, dort kommt es landesweit zu einer Schweigeminute, ein Schweigen, in dem man sich zum Beispiel bewusst machen kann, dass auch heute wieder Menschen auf der Flucht sind – und dann wäre schon etwas getan für die Gegenwart.

Wenn Impfverweigerer sich heute mit Juden und der Shoah vergleichen oder von jüdischer Weltverschwörung bedroht fühlen – wie offen erscheint Ihnen Deutschland dann für jüdisches Leben?

Die Mehrheit scheint mir offen und interessiert.

Kann „Doitscha“ gegen die pandemische Zuschauerkrise helfen, die auch Ihrem Haus viele leere Parkettreihen beschert hat?

Die Vorverkaufszahlen sind besser als bei den bisherigen Schauspielpremieren. Es wird sich rumsprechen, wie Altaras ihren humanistischen Humor aus ungeschminkter Widersprüchlichkeit bezieht, wenn beispielsweise ihre uralte Tante, selbst eine KZ-Überlebende, ein Loblied auf Silvio Berlusconi singt und auf Ukrainerinnen schimpft, die ihr angeblich den Schmuck klauen. Das ist so lebensnah, wie es nur geht.

„Doitscha“: Premiere am 18. 12., 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven

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